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Zukunft zum Selbermachen

- Zur heuristischen Rolle des Selbstorganisationskonzepts -

1. Wendezeit- Erfahrungen

Ich konnte erst jetzt, 1992, mehr über Neue Weltbilder/ New Age lesen. Im Jahr 1985 hatte ich gerade mein Physikdiplom geschrieben und begann, innerhalb des realen Staatssozialismus irgendeine Verbindung von gesellschaftlicher Praxis und Theorie, wie ich sie kannte, zustandezubringen. Es dauerte einige Jährchen, bis ich auf das Selbstorganisationskonzept stieß und als ich gerade dabei war, mich durch Prigogine und Jantsch hindurchzulesen, begann meinem Land der Boden unter den Füßen wegzurutschen und ich befand mich mitten in der schönsten Wendezeit. Mein gerade erarbeitetes, auf der politischen Theorie des "realen Sozialismus" fußendes Weltbild bekam Sprünge. Nun begann das massenhafte Wegschmeißen aller Marx- und Leninbände. Das gab mir die Möglichkeit, meine Bibliothek aufzufüllen. Andererseits sah ich in einem krampfhaften Festhalten aller alten Denkschemata auch keine Lösung. Ich hatte Glück: Da ich bereits in die Ansätze des Selbstorganisationskonzepts hineingerochen hatte, konnte ich in der Art und Weise der "Wende" Entwicklungsprinzipien wiedererkennen, wie sie mir in der Theorie gerade bekannt geworden waren. Das betraf besonders die Rolle erst kleiner Oppositions-"Keime", ihr sprunghaftes Anwachsen zu einem bestimmten Zeitpunkt unter bestimmten Bedingungen und später auch das Unterwerfen der offenen Situation unter eine neue Logik, die Profitlogik. Es macht Sinn, in diesen Prozessen keine Einmaligkeit zu sehen, wenn auch die konkreten Triebkräfte und Bedingungen nicht mit einer Selbstorganisationstheorie zu erfassen sind, sondern auf dem Boden der Tatsachen jeweils konkret untersucht werden müssen.

Mich und meine Freunde interessierte das Ganze nun nicht vorrangig aus wissenschaftlichen Gründen. Wir gehören zu denen, die in der Profitlogik kein ewiges, und auch für die Gegenwart inhumanes und unökologisches Prinzip sehen und nach Alternativen fragen. Daß für uns eine Revolutionstheorie alten Stils, auch die Avantgarde- Rolle einer führenden Elite als Prinzipien ausgespielt hatten, liegt allerdings weniger nur an ihrer Erfolglosigkeit, sondern wurde unterstützt durch die Erkenntnisse aus dem Selbstorganisationskonzept. Nach dem Kommunistischen Manifest ergibt sich die Avantgarde-Rolle der Kommunisten daraus, daß sie "theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus" haben sollten. Bereits in der DDR gab es in der wissenschaftlichen Debatte den Standpunkt, daß diese Bewegungen gar nicht so eindeutig vorausbestimmbar sind. Dies ergab sich als Quintessenz eindeutig bereits aus dem statistischen Gesetzesbegriff nach Herbert Hörz, der Möglichkeitsfelder und eine Variantenvielfalt möglicher Wirkungen erfaßte. Dies zu erkennen, ist das Selbstorganisationskonzept nicht unbedingt notwendig, im Materialismus hat stets auch eine dialektische Version gewirkt, für die eine starre Determiniertheit nie aktuell war.


2. Orientierung an einem Konzept ohne feste Regeln

Innerhalb des Konzepts der Selbstorganisation kann man nun verschiedene Bezugspunkte verwenden. Für uns erwies sich das berühmte Bifurkationsbild sehr nützlich:

Bifurkation

Abbildung: Bifurkation

Wenn sich in Entwicklungsprozessen die beteiligten (offenen und nichtlinear vernetzten bzw. positiv rückgekoppelten) Systeme vom Gleichgewicht entfernen, können wir dieses Bild als Modell des Entwicklungsvorgangs betrachten. Wir erkennen, daß sich aus stabilen Zuständen beim Überschreiten bestimmter Parameter die Möglichkeiten aufzweigen, das System neue Zustände einnehmen kann. Dabei kann es vorkommen, daß es recht bald wieder ein sehr stabile Zustände fällt, in denen Ordungsparameter für die Stabilität sorgen. Es kann aber auch sein, daß die Möglichkeitsvielfalt so groß ist, daß das System stark schwankt, oft seine Zuständ wechselt. Innerhalb der Systemtheorie sind diese Möglichkeiten beschrieben.

Dieses Modell allein sagt nun überhaupt nichts darüber, wie sich das System der menschlichen Gesellschaften in Zukunft entwickeln wird. Das wird innerhalb der Gesellschaft entschieden. Es sagt uns aber einiges über grundlegende Entwicklungsprinzipien. Wir sehen, daß bei wachsendem Ungleichgewicht das System kurz vor dem Bifurkationspunkt noch so stabil wirken kann- es entgeht seiner Schicksalsstunde nicht. Wir sehen, daß danach kein Zustand mit Bestimmtheit eingenommen wird. Er ist deshalb auch nicht vorhersagbar. Eine Zukunftstheorie in diesem Sinne zu suchen wäre deshalb sinnlos. Wir können auch keine Gewißheit aufbauen, daß danach die Stunde der Seligkeit geschlagen hat, wie es New Age unzulässigerweise macht.

Man kann politisch die verschiedensten Schlußfolgerungen ziehen. Einerseits kann man Wert darauf legen, das System im heutigen Zustand möglichst lange stabil halten zu wollen. Dann macht es Sinn, zu erfragen, wo kritische Parameter liegen, wie man die Ordnungsparameter steuern muß.

Man kann sich aber auch fragen, welche Bedingungen man beeinflussen muß, um bei einem Umbruch die Wahrscheinlichkeit des Neuordnens in einen humanen und ökologischen neuen Systemzustand zu erhöhen - ohne genau wissen zu können, wie dieser aussieht, strukturiert ist, funktioniert.

Der Umbruch ist mit enormen Risiken verbunden. Das macht den Konservatismus verständlicher. Es ist aber die Frage, ob die Risiken gemindert werden können, wenn man die Annährung an solche Umbrüche nicht wahrnimmt. In der DDR haben wir damit schlechte Erfahrungen gemacht. Für die globale Weltlage geht es um das Leben von Millionen Menschen, um die Zivilisation insgesamt.

3. Zukunft zum Selbermachen

Außerdem kann das Selbstorganisationskonzept doch noch mehr. Wir kennen wichtige Unterschiede zwischen dem Chaos, das z.B. bei der ungeordneten Teilchenbewegung in der Brownschen Bewegung vorliegt, und das im allgemeinen immer mit dem Begriff des Chaos assoziiert wird. Dies ist das Chaos im Gleichgewicht. Im fernen Ungleichgewicht taucht ein neuer Zustand auf, der in der Abbildung oben davon gekennzeichnet ist, daß die möglichen Zustände sich derart überlappen, miteinander wechselwirken, daß es keine stabilen Zustände im Sinne starrer Ordnung gibt. Dieses turbulente Chaos ist davon gekennzeichnet, daß sich in ihm durchaus Ordnungen zeigen. Diese sind erst seit einigen Jahren durch Computerberechnungen erkennbar geworden. Am Schönsten zeigen die berühmten Fraktal-Darstellungen die inneren Gesetzmäßigkeiten dieser Art von Chaos:


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Abbildung: ein schönes Fraktal

Mathematische Bilder sind nun keine Modelle für Gesellschaften. Jedoch kann man aus dem Selbstorganisationskonzept ableiten, daß es Systemzustände geben kann, die kleinere Einheiten nicht "versklaven" (wie es bei der Unterordung unter die Ordnungsparameter sonst geschieht), sondern in denen sich diese unter ständigen Wechselwirkungen (in turbulentem Strom) relativ autonom verhalten.

Heuristisch war dies für mich ein "Aha-"Effekt, der mir die Augen öffnete für die bereits vorhandenen anarchistisch angehauchten Zukunftsentwürfe, die wir ja vorher fast gar nicht kannten. Das Ganze lenkte mich dann auch lange von rein wissenschaftlichen Studien ab, ich begann aber viel nachzuholen an politischer Bildung. Ich las über Kommunen, Öko-Dörfer, neue politische Bewegungen und sah auch die politische Realität nun plötzlich mit einer anderen "Brille". Alte Fragen aus der Politik stellten sich nun neu. Zum Beispiel die Frage, wie denn in einer großindustriellen Praxis wirkliche Wirtschaftsdemokratie funktionieren soll.

In einer Gruppe Interessierter begannen wir Material zusammenzutragen über mögliche Zukünfte, die sich eben von der Idee dezentraler, aber vernetzter Lebens- und Arbeitsgemeinschaften inspirieren ließen. Für uns war das alles sehr neu - für "gelernte Wessis" würde ich Eulen nach Athen tragen, das alles zu wiederholen. Inzwischen sind wir bezüglich der hoffnungsvoll aufgefundenen Alternativen wieder bei der "Negation der Negation" angelangt. Wir sehen, daß eine dezentralisierte Produktionsweise nicht zu der Technik des Mittelalters zurückkehren darf, auch wenn sie ökologisch sein will. Wir betrachten auch die Spiritualisierung als Grundkonzept skeptisch, weil wir einem neuen Elitekonzept nicht folgen können. Trotzdem müssen wir die derzeitige Großtechnik negieren, auch die derzeitigen menschlichen Umgangsformen bis ins Private hinein. Die Lösungen dürfen aber nicht wieder totalitär werden (Spiritualität kann dahin tendieren), und wir benötigen noch eine große technische Arbeit der Entwicklung produktiver, aber human und ökologisch vertretbarer Arbeitshilfen.

Wichtig aus dem Verständnis der Existenz einer Vielzahl möglicher Zukünfte, wobei das Selbstorganisationskonzept helfen kann, ist auch, daß man Vertretern anderer Konzepte tolerant entgegenkommen sollte, solange nicht humane oder ökologische Prinzipien verletzt werden. Der Steit um "die eine, richtige" Lösung ist unfruchtbar.

Auf diesen Weg begeben wir uns nun langsam. Hier bewegen wir uns in den Untersuchungen auch auf der Ebene des jeweiligen Themas. Das Selbstorganisationskonzept hier überzustrapazieren wäre gefährlich und irreführend. New Age zeigt uns, was passiert, wenn man ein weltanschauliches Motiv über alle Feinheiten der Praxis stülpt. Andererseits sind wir aber auch interessiert, das Selbstorganisationskonzept selbst weiter zu verstehen und Beziehungen zu anderen Bereichen, z.B. zu einer dialektisch- materialistischen Philosophie zu vertiefen.



Annette Schlemm für "Zukunftswerkstatt Jena" 14.12.92 - HTML am 2.8.96

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