Umfassender Bereich:
Mit dem selbstbewußten Aufschrei "Ich bin Ich!" (Fichte) begann die Blütezeit der klassischen deutschen Philosophie.
In vielen indischen Denktraditionen wird die Betonung der Einheit
mit der umgebenden Welt betont: "Tat tvam asi" (Das
bist alles du, du bist alles und in allem).
Ich habe in dem, was ich von dem indischen Denken und Fühlen
(denn Denken ist da nie isoliert!) kenne, und wie ich es interpretiere,
einiges ausgewählt, um es vorzustellen. Obwohl es nur sehr
selten neben der griechischen Philosophie als Beginn einer neuen
menschlichen Epoche dargestellt wird, ist es in seiner Bedeutung
überhaupt nicht zu unterschätzen. Schon daß eben
niemals das Denken allein betrachtet wird, setzt einen wichtigen
Unterschied, der für unsere Philosphietraditionsbetrachtung
wesentlich ist. Wenn die Geburtsstunde der Philosophie nur mit
der Geburt des Wissenschaftlich-Rationalen verknüpft wird,
wird auch die Philosophie auf das Denken eingegrenzt und läßt
sich mit dem ihr entgegengesetzten "Mystischen" nicht
ein und es wird später in abrupter Entgegensetzung zur früheren
Denkweise wieder eingeführt (Nietzsche, Lebensphilosophie).
Diese Entgegensetzung bleibt aber dann geprägt von Unversöhnlichkeit
und findet nicht die harmonische Einheitlichkeit, die das Menschsein
in seiner Einheit von Körper, Psyche und Gesellschaftlichkeit
doch gerade ausmachen sollte. Die (nach-post)modernen europäischen
und amerikanischen Ganzheitlichkeitsbeschwörer heben nicht
selten ein solches Kampfgeschrei gegen das böse "cartesische"
und "newtonsche" Weltbild an, das an ihrer inneren Harmonie
doch arg zweifeln läßt. Wie eigenartig dieser innere
Bruch zwischen verkündeter harmonischer Ganzheitlichkeit
und oft verbiesterter "Feindes"abwehr dabei ist, wurde
mir erst bewußt, als ich indische Traditionen ein wenig
kennenlernte. Hier wird Ganzheitlichkeit noch ganz anders verstanden
und gelebt.
Seit ich einmal in der Woche zu einem Yoga-Kurs gehe, werde ich
von meinen Bekannten gefragt: "Und, was hat es gebracht?"
Ich muß dann immer lächeln. Manchen Fragestellern antworte
ich dann, daß Yoga gerade bedeutet, nicht sofort nach
einem "Effekt", einem direkten "Nutzen" zu
fragen.
Wir Westeuropäer haben die Innerlichkeit, das Mystische,
das Kontemplative abgegeben an die Religion oder gänzlich
verdrängt. Diese Religion verweist ganz aufs Jenseitige.
Im Diesseitigen gewann eine Lebenshaltung Raum, die ganz auf Funktionalität,
Effektivität und Dynamik ausgerichtet ist und andere Ziele
gar nicht mehr zuläßt. Eine innere Verelendung begleitet
die materielle Not der meisten Menschen auf der Erde wie auch
das Luxusleben einiger weniger. "Die Produkte werden nicht
für die Subjekte erzeugt; die Subjekte werden für Produktion
und Konsum hergerichtet, abgerichtet." Das Mensch-Sein ist
ganz von dieser Situation geprägt.
Die Menschen im indischen Raum hatten die Chance (die ihnen unser
Wirtschaftssystem in der Gegenwart immer mehr raubt), andere Entwicklungswege
zu probieren. Die territorialen und klimatischen Gegebenheiten
erlaubten eine größere Vielfalt an Lebensformen. Die
sozialen Schichten und Klassen stießen nicht in ausschließenden
Kämpfen aufeinander, sondern ihre Widersprüche arbeiteten
sich in verschiedenen Kulturen aneinander ab, was auch eine gemeinsame
Weiterentwicklung ermöglichte. Städtische Zentren waren
von großen und noch lange stabilen Dorfkulturen umgeben.
Aber das heißt nicht, daß es keine Konflikte gegeben
hätte. Die eingewanderten Aryas hatten das Leben der vorherigen
Einwohner schon stark verändert. Erst mit ihnen begann die
Überlieferung der ältesten bekannten indischen Geistestraditionen
(Veden). Vielleicht wissen die Öko-Feministinnen mehr über
frühere kulturellen Traditionen im indischen Raum - ich würde
nicht annehmen, daß die Kultur mit den Kriegerhorden der
Aryas geboren wurde. Die neuen Lebensformen (Krieger, Handwerk,
Handel), die die Aryas in die Dorfgemeinschaften brachten, prägten
jedenfalls dann die vedische Kultur in Indien. In den dafüt
typischen Opferritualen kommt nicht nur eine Unterwerfungsgeste
zum Ausdruck, sondern auch eine enge Verbundenheit mit der äußeren
Natur. Opfer sollten der Natur zurückgeben, was von ihr zum
Überleben genommen wurde. Später jedoch lösten
sich die Rituale immer stärker vom wirklichen Leben. Kulturelle
Reformbewegungen kamen auf, die durch neue Lebensbedingungen (mehr
Städte, Handel, Handwerk prägt das Leben von immer mehr
Menschen...) gefördert wurden. Während im früheren
Leben der Menschen sinnerfüllte Arbeit und Kultur, Sinnlichkeit
und Funktion, Arbeit und Muße noch nicht strikt getrennt
waren, zerfiel diese Lebenseinheit jetzt. Zusätzlicher Leidensdruck
durch Eroberung vorher freier Stämme durch die Stadtstaaten
ließen die Welt zunehmend als Leiden erscheinen, was im
späteren Buddhismus auch systematisch zum Ausgangspunkt einer
Heilslehre gemacht wurde. Aber noch vor dem Einmünden der neuen Ansätze in Buddhismus und Janaismus entwickelten sich neue Denkmodelle. Das Ablösen der Abhängigkeit von den Opfern, das Hinwenden zum Bedenken der Taten und zum Individuum wird deutlich in den Upanischaden. Die sozialen Widersprüche spitzen sich nicht extrem zu und wurden i.a. nicht klassenkämpferisch, sondern soziokulturell ausgetragen.
Dadurch konnten viele verschiedene Lebensweisen und Denkmodelle
miteinander konkurrieren und sich gegenseitig befruchten. Die
klassischen Texte sind deshalb viel weniger polemische Auseinandersetzungen
(auch wenn die Kritik an den sinnentleerten Opferritualen oft
deutlich ist) als ein Ineinanderfließen verschiedenster
Ansätze.
"Yoga" ist von dieser Geschichte wesentlich geprägt.
Die Vielfalt der Lebens- und Denkformen läßt auch Yoga
nicht eindeutig abgrenzen und definieren. Ganz allgemein betrachtet
ist es die Lebenspraxis (also nicht auf Körperübungen
beschränkt), die eine sinnvolle Synthese zwischen dynamischer
Aktivität (die die neuen gesellschaftlichen Gruppen der
Händler und Handwerker vertreten) und einer stärkeren
Zurücknahme dieser Aktivität, einem fühlenden In-das-Wesen-Versenken
versucht. Während - wie schon erwähnt - im europäischen
Raum der zweite Aspekt auf das Jenseitige kanalisiert wurde, blieb
im weltlichen Leben nur das hektisch-dynamische. Eine Integration
im realen Leben gelang nur den wenigsten Individuen, die gesellschaftliche
Dynamik jedoch nahm fast ungestört von bremsenden Kräften
ihren heute ökologisch und sozial zerstörerischen Lauf.
Im indischen Leben und Denken blieben beide Aspekte immer in Berührung.
Die Bhagavadgita beschreibt am deutlichsten das ständig neu
aufrechtzuerhaltende Wechselverhältnis von Aktivität
und Ruhe. Krischna muß den Krieger Ardjuna, der am Sinn
des Krieges zu zweifeln beginnt, erneut zum Kämpfen überreden.
Dieses Ziel wird von uns sicher in Frage gestellt - es dient hier
vorwiegend zum Verdeutlichen der Argumente. Krischna fordert Ardjuna
zu einem Handeln auf, das sich nicht von der Erfolgsaussicht
abhängig machen läßt.
Es kommt darauf an, sein Handeln in das Wirken der Welt einzubringen.
"Es" wirkt, ich handele. Die Subjekt-Objekt-Dialektik
zeigt sich hier als Zusammenhang von Wirken und Handeln.
Laß alle Begierden und Wünsche los, aber verharre nicht
in Untätigkeit. Tue deine Pflicht, aber mache dich nicht
abhängig vom Erfolg. - Dies ist die Lehre Krischnas für
Ardjuna. Sie vereinigt die grundlegenden Lebenshaltungen der Aktivität
und der Passivität durch eine gegenseitige überwindung
der jeweiligen Einseitigkeit. Wer sich wirklich befreien will
von allen Abhängigkeiten, muß den Hang zu leidenschaftlicher
Aktivität eingrenzen können, d.h. überwinden; er
muß auch der Versuchung entgehen, passiv alles nur über
sich ergehen zu lassen - aber auch das in sich ruhende harmonische
In-der-Welt-Sein mit all ihren Widersprüchen reicht noch
nicht aus, solange diese Harmoniesuche an ein abhängig machendes
Streben nach Glück und Erkenntnis gebunden ist.
Diese Ansicht ist in sich dialektisch (das jeweilige Aufheben
eines Moments durch seinen Gegensatz im Sinne von Negieren, Aufbewahren,
überschreiten), aber in anderer Weise als die in Europa entwickelte
Dialektik.
In Europa ist die Dialektik eine konstruierende, aufbauende. Sie
bezieht sich nur auf den Geist und auf dessen Höherschreiten.
Im indischen Kulturraum ist sie eine loslassende, tiefergehende
und das ganze Menschsein umfassende Dialektik.
Die Suche nach dem Wesen des Menschen, von seinem eigenen Wesen
ist bei den Yogi auch nicht auf das Geistige reduziert, sondern
läßt im Gegenteil ab von allen geistigen Vorstellungen.
Das Wesen des Menschen wird nicht auf den Höhen des Geistes
gesucht, sondern im tiefsten Innern des Menschen, in dem er auch
seine Einheit mit dem universellen Wirken um sich herum findet.
Trotzdem ist das nicht dasselbe, wie die europäische Psychoanalyse,
die Un-Bewußtes, Verdrängtes aufsucht oder Therapien,
die im Analysieren und Wiederbeleben von Erlebnissen den Kern
des Menschen beeinflussen wollen. Yoga ziel nicht nur auf Un-Bewußtes
in Form des Nicht-mehr-Bewußten, sondern auf das Noch-nicht-Bewußte,
das in tieferen Schichten unseres Seins seine Bedürfnisse
artikuliert und sich entwickeln will.
Diese Art, zum Wesen vorzudringen, hat auch eine andere Vorstellung
vom Wesen der Welt und der Menschen. Wir haben nicht irgendeine
"Wirklichkeit" zu erkennen und uns anzupassen oder sie
zu verändern, sondern ihre Prozeßhaftigkeit zeigt sich
in einem universellen Wirken. Unser Handeln ist ein Teil dieses
universellen Wirkens. Wir verlieren uns darin aber nicht als eigenständige
Identität, wir sind durchaus distanziert herausgenommen aus
dem Wirken. Wir können die Welt kritisch durchschauen - sind
aber durch unser Handeln immer zurückgebunden an das Universelle.
Das Handeln steht auch nicht allein, muß nicht allein irgendwelche
Ziele erreichen - wenn die Ziele sinnvoll sind, kommt ihnen das
universelle Wirken entgegen. Der Einklang von Handeln und Wirken
ist garantiert, wenn unser Handeln weder von verbiesterter Erfolgshascherei
noch von passiver Lähmung durchdrungen ist, sondern wenn
wir uns den Widersprüchen und Konflikten als mit sich selbst
im Reinen befindliche Persönlichkeit stellen können.
In diesem Handeln innerhalb des universellen Wirkens kommen wir überhaupt erst zu unserem Wesen, unserer Identität. Ein Modell in der indischen Tradition betont das Einssein des Individuums (atman) mit der Wirklichkeit außer uns (brahman). Ein anderes Modell sieht einen immerwährenden Widerspruch zwischen uns und der Welt. Die Existenz und das Wesen des Menschen sind dann immer verschieden und nicht absolut in Übereinstimmung zu bringen.
Zu wiederholen ist hier, daß die Identität nicht -
wie im europäischen Kulturraum - vorwiegend im Geistigen
gesehen wird. Nicht nur der Geist wird bewußt eingesetzt
(Ich denke, also bin ich), sondern mit der ganzen inneren
Natur soll bewußt gearbeitet werden.
Körper und Geist beeinflussen sich wechselseitig. Das Gesicht
arbeitet mimisch beim Denken meist mit. Werden die Gesichtsmuskeln
bewußt entspannt - kommen auch die Gedanken zur Ruhe. Werden
die Augen ganz tief entspannt, lösen sie sich von den bis
dahin vorherrschenden optischen Vorstellungen und sind offen für
neue aus tieferen Schichten des Selbst.
Was das Ziel des Handelns sein soll, wird unterschiedlich gesehen.
Das völlig qualitätslose Nirvana ist nur eine Variante.
Eine andere ist die rein erkenntnismäßige Einheit mit
dem Universellen. In der Bhagavadgita wird in der erreichten Einheit
auch etwas sich bewegendes, ein Wirken und Handeln gesehen. Sogar reduziert auf das rein Körperliche ergibt Yoga (in Form des Hatha-Yoga) interessante Effekte. Die Atmung hat dabei eine Schlüsselstellung als Prozeß der einerseits unbewußt abläuft, aber auch bewußt reguliert werden kann. Er dient als "Übersetzer" von unserem Willen hin zu den unwillkürlichen Prozessen wie Blut- und Lymphfluß und damit Herzschlag usw.
Der bewußte Umgang mit Anspannung und Entspannung ist ebenfalls
typisch für Yoga. Erst auf Grundlage von Entspannung gewinnt
eine gewollte Spannung ihre Kraft und Dynamik. Hier begegnen wir
ähnlichen Prinzipien wie ganz allgemein: Auf Grundlage
einer in sich ruhenden Gelassenheit kann ein aktiver Krafteinsatz
wirksamer sein als ein verkrampfter.
Für Leistungssport ist die mentale Leistung inzwischen mit
ausschlaggebend für den Erfolg geworden. Aber genauso bedeutsam
ist dies für den Alltag. Unsere Körper sind ebenso wie
unser Bewußtsein i.a. ständig in einer angespannten
Haltung. Ständig wird Leistung von uns gefordert, Funktionsfähigkeit
und Effektivität. Dynamisch, flexibel und mobil müssen
wir sein. "Faulheit" gehört sich nicht. Die verbieten
wir uns selbst und lassen derartige Bedürfnisse gar nicht
erst zu. Wir nehmen die Bedürfnisse danach nicht mehr wahr.
Wir verlernen sie überhaupt wahrzunehmen. Deshalb verkrampfen
wir uns ständig in einer Alarmhaltung. Die biologisch sinnvollen
Notmechanismen werden zum künstlich erzeugten Normalfall.
Bluthochdruck, Muskelverspannungen und andere Probleme sind die
Folge.
Yoga als Körperübung kann einige dieser Zusammenhänge
aufbrechen und bewußtmachen. Wenn es nur genutzt wird, um
den Körper nach den ersten Problemchen wieder "fit"
und "funktionsfähig" zu machen, ist seinem Wesen
allerdings nicht Genüge getan. Yoga fordert und fördert
nicht die Anpassung an lebensfeindliche Lebensweisen, sondern
neue Lebensweisen. Wesentliche Literaturquelle (neben einigen übersetzten klassischen indischen Texten):
Reinhard Täube: Innere Erfahrung und Gesellschaft
- Klassischer Yoga - Indische Mystik. Beiträge zur Alternativkultur
oder - Die Lotosblüte bekommt Stacheln - (Frankfurt/Main
1977)
siehe auch:
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