Selbstorganisation statt Machtkämpfe...

Angesichts der genannten Grundlagen einer von mir gewünschten nach-ökonomischen Gesellschaft kommen natürlich viele Einzelfragen danach, wie denn das konkret funktionieren solle... Einerseits kann ich es mir hier einfach machen und darauf verweisen, daß ich ja gerade KEIN Modell fabrizieren will, was für alle Gültigkeit besitzt, sondern dies den einzelnen Menschen in ihren Gemeinschaften überlassen will. Andererseits kann ich aber auch auf die Keime hindeuten, die bereits unübersehbar deutlich machen, daß diese Visionen durchaus schon als Leitbilder unser Handeln orientieren können. An dieser Stelle ist es auch nicht mein Ziel, die Ansätze anders zu wirtschaften und zu leben im Einzelnen zu bewerten, obwohl dies angesichts ihrer Ausbreitung und der Notwendigkeit der Auswertung ihrer Erfahrungen wichtig ist. Mir geht es hier um einen groben Umriß der Möglichkeiten und die Betonung des Grundsatzes der Selbstorganisation, der sich auf vielfältige Weise ausprägt, u.a. auch in der anarchistischen Tradition:

 

Anarchie: "Es ist der Wunsch nach Herrschaftslosigkeit und der Wunsch, auch selber nicht zu herrschen" (H. Böll).


 

Wege, die den Zielen entsprechen

 

 

Wenn der Bau einer Brücke das Bewußtsein derer
die daran arbeiten, nicht erweitert,
dann soll die Brücke nicht gebaut werden.

(Frantz Fanon)

 

Revolution oder Reformen?

In allen politischen Handlungen flackert das Spannungsverhältnis von zwei überlappenden Wirkungsbereichen auf. Man muß innerhalb der gegebenen Welt handeln - will aber über ihren Horizont und ihre Möglichkeiten hinausgelangen. Das Augenmerk wird von verschiedenen Menschen und Gruppen in unterschiedlichen Situationen meist schwerpunktmäßig auf jeweils ein Richtung orientiert. Dadurch ergeben sich zwei ewig streitende Konzepte: Reform oder Revolution.

Reformen versuchen schrittweise das Gegebene in eine gewünschte Richtung zu bewegen und bleiben damit im allgemeinen innerhalb des Rahmens des Gegebenen. Die Wünsche passen sich im allgemeinen an das Vorhandene - die "Sachzwänge" - an. Revolutionen dagegen zielen auf radikale Änderungen der Grundstrukturen und -gesetze der Realität durch möglichst schnelle und eher "sprunghafte" Veränderungen als Voraussetzung für die darauf folgende Umsetzung der neuen Vorstellungen.

Aus dem Wissen um die Eigenschaft grundlegender Wandlungen, in sprunghaften, die früheren Gesetzmäßigkeiten ablösenden Prozessen stattzufinden, neige ich mehr zur Betonung der Revolution, wo es um radikale Wandlungsprozesse geht. Andererseits ist mir bewußt, daß ein Sprung in progressive Richtung nur gelingen kann, wenn er auf Grundlage von konkreter Selbstorganisation stattfindet. In der praktischen Erfahrung zeigt sich, daß Spontaneität allein unzureichend ist für das Erreichen besserer Zustände, aber eine klare Führung auch nicht zum gewünschten Ergebnis führt:

"Der spontane Kampf hat sich stets als unfähig erwiesen, und die organisierte Aktion sondert gleichsam automatisch einen Führungsapparat aus, der früher oder später repressiv wird" (Weil 1975, S. 135).

Etwas hilflos stellt S. Weil deshalb fest: "Die machtvollen Mittel sind repressiv, die schwachen Mittel sind unwirksam" (ebenda, S. 235).

Selbstorganisation statt Interessenvertretung

Eine befriedigende Antwort auf die Frage, welche Strategie für eine bewußte Gesellschaftsveränderung genutzt werden sollte, ist nicht mehr zwischen Reformkonzept und Revolution zu finden.

  "Wir müssen die Art und Weise, wie wir verändern, verändern"
(Latour 1997).
 

In der Praxis zeigt sich, daß (gleichgültig ob früher reformerisch oder revolutionär orientierte) politische Bewegungen entweder dazu tendieren, für ihre Klientel bessere Lebensbedingungen auf der beibehaltenen Grundlage von Wirtschaft und Lebensweise herauszuschlagen - oder grundsätzlich dazu übergehen, die Art und Weise der Interessendurchsetzung zu verändern: Selbst-Organisation statt Interessenvertretung (vgl. Schlemm 1990).

Einige nationale Befreiungsbewegungen versuchen beispielsweise in den Machtkämpfen kapitalistischer Staaten mitzuspielen (Unterstützung der Guerilla in ehem. Zaire durch US-Bergbaukonzerne, die dafür das Recht auf Ausbeutung der Bodenschätze nach dem Sieg der Guerilla erhielten) (gruppe demontage 1998, S. 96) oder sie beteiligen sich beim gegenseitigen Unterbieten der Peripherie-Staaten bezüglich der Ausbeutungsbedingungen (ANC und korsische FLNC).

Andere Befreiungsbewegungen orientieren eindeutig auf Selbstorganisation statt auf eine neue Führung und einen neuen Staat (EZLN in Mexiko, Tupamaros in Uruguay). Hierbei wird nicht der "Sieg" neuer Führer angestrebt, sondern die Schaffung eines öffentlichen Raums als "Vorzimmer der neuen Welt..., in dem die verschiedenen politischen Kräfte mit gleichen Rechten und Pflichten um die Unterstützung der Mehrheit der Gesellschaft "kämpfen"..." (Subcomandante Marcos S. 227).

Der "Libertäre Kommunalismus" nach Bookchin (Biehl 1998) beruht ebenfalls auf Selbstorganisation im kommunalen Bereich. Ihre Vertreter befürworten im Unterschied zu Anarchisten die Beteiligung an Wahlen für Kommunen. Es geht dabei aber nicht primär um viele Stimmen und Sieg, sondern um die Infrastruktur zur Organisation von Bürgerversammlungen, die nach und nach die Stadtverwaltung über eine Art Doppelherrschaft überflüssig machen sollen und auf diese Weise auch die Rahmenbedingungen verändern. Die lokale Politik ist hier das Hauptkampffeld. Auch der Kampf zwischen Kapital und Arbeit findet "in seiner politischsten Form häufiger in den Nachbarschaften als in den Fabriken statt" (Bookchin 1996).

Der Bezug auf die Selbstorganisation kennzeichnet geradezu die sog. "Neuen sozialen Bewegungen". Selbstorganisation ist dabei gleichzeitig Organisationsprinzip und Grundlage des gesellschaftspolitischen Programms (Paslak 1990, S. 282). Dies entspricht dem alten anarchistischen Grundprinzip: "Die Mittel müssen dem Ziel entsprechen".

Erst auf dieser organisatorischen und strategischen Grundlage kann es gelingen, gleichzeitig die Umstände und die Veränderer selbst verändern, wie es Marx für die revolutionäre Praxis in den Feuerbachthesen forderte.

Nach Paslak sind für diese Bewegungen folgende Eigenschaften typisch:

  • die konstitutive Kraft informeller bzw. selbstorganisierter Prozesse geht über die Dynamik einzelner Gruppen hinaus und führt zum Aufbau eines komplexen Netzwerkes von Initiativgruppen,
  • die selbstorganisierten Strukturen werden nicht von "objektiven" Außeneinwirkungen geformt, sondern entstehen aus jeweils inneren eigenen Entscheidungen über die Bewertung von Situationen und Problemen,
  • die interne Handlungskoordination ist stets labil und flexibel änderbar und
  • die Fortsetzung der Struktur ist an die gemeinsame Bindung und Weiterentwicklung gemeinsamer Werte und Ziele gebunden.

Inzwischen sind die Organisationsprinzipien und Werte der Selbstorganisation weit in die Gesellschaft, besonders die Jugend hineindiffundiert. Gerade Linke übersehen oft das Neue der von ihnen als unpolitisch eingeschätzten Jugendkulturen. "Wie immer wird eine neue Politikform von älteren Herrschaften nicht als solche erkannt" (Cropp 1998, S. 166).

Entwicklung durch Widersprüche

Selbstorganisierte Entwicklung beruht darauf, daß sich während reproduktiver zyklischer Prozesse die äußeren und inneren Bedingungen laufend ändern. Dadurch entfernt sich das System (kosmisches Objekt, Organismus, Population, Individuum, Gruppe, Gesellschaft...) immer mehr vom stabilen Bereich seiner Reproduktion. Kleine Veränderungen und innere und äußere Differenzierungen werden im stabilen Bereich "herausgemittelt". In der Weiterführung der Bedingungsveränderung gelangt das System schließlich zu einer Stelle, an der sein bisheriges Fließgleichgewicht stark destabilisiert ist ("sensible Phase" am "Bifurkationspunkt", wenn lt. Hegel das "Maß" der bisherigen Grundqualität erreicht ist). Jetzt werden einige der kleinen Differenzen zu wesentlichen Unterschieden. Aus ihnen entstehen neue Systemgesetze, neue Qualitäten (ausführlicher siehe Schlemm 1996, S. 199ff.).

Allgemeine Strukturkonzepte wie System- und Selbstorganisationstheorien können prinzipiell keine Aussage dazu treffen, welche Differenzen und Unterschiede zu Gegensätzen und Widersprüchen werden. Dialektische Philosophie als Rahmenkonzept betont jedoch, daß Veränderungen und Neues nur aus konkret bestimmten Verhältnissen erwachsen können. Deshalb können allgemeine Konzepte nur allgemeine Muster angeben (wie in Schlemm 1996, S. 195f.).

Dieser methodische Einschub könnte praktisch unwichtig sein, wenn er uns nicht auf ein wichtiges Prinzip hinwiese:

Wir können theoretisch, das heißt allgemein durchaus wesentliche Grundtendenzen des (jeweils historisch begrenzten) Realen ableiten (Wesen des Kapitalismus: Wert-Vergesellschaftung, Profitorientierung, Widerspruch Lohnarbeit-Kapital). Jedoch führt uns diese allgemeine Theorie (des historisch Begrenzten) niemals aus sich heraus auf die Potentiale des Überschreitens des Systems, für das sie gilt.

Das Überschreitende ist nicht theoretisch ableitbar! Es entsteht gerade aus dem Konkreten, welches einer neuen, erst entstehenden umfassenderen Allgemeinheit entspricht. Es widerspricht dabei notwendig dem herrschenden begrenzten Allgemeinen (vgl. Schlemm 1998 nach Marcuse 1998).

Das herrschende Allgemeine ist im Kapitalismus geradezu vollständig als "Sachzwang" wirksam. Gesellschaftliche Vermittlungen vollziehen sich primär über (ökonomische) Werte. Gleichzeitig jedoch wird die Differenz zu den qualitativ bestimmten Voraussetzungen dieser Produktions- und Lebensweise zu einem immer schärferen Widerspruch (zweiter Grundwiderspruch neben Kapital-Arbeit-Widerspruch nach 0`Connor). Die abstrakte Wertvergesellschaftung gerät in Widerspruch zu ihren konkreten qualitativen Voraussetzungen, die sie selbst zerstört.

Auch die Globalisierung als allgemeiner Trend der gesellschaftlichen Entwicklung erzeugt Widersprüche im Lokalen - wo sich dann auch direkt Widerstände formieren.

Die Herrschaft der abstrakten Arbeit erzeugt mit dem Ende ihrer teilweise progressiven Wirkung auf die Produktivkraftentwicklung überschießende konkrete Entwicklungstendenzen, die der konkret bedürfnisbefriedigenden Tätigkeit Möglichkeitsräume öffnen (New Work).

Die modernen Organisations- und Managementprinzipien, die auf Flexibilität und Dezentralität setzen, mögen vorerst lediglich Profitmaximierungsstrategien unterworfen sein. Notwendigerweise erzeugen sie jedoch Fähigkeiten und Bedürfnisse bei den Menschen, die über die herrschende Lebensweise hinausweisen.

Es ist nicht utopisch, aus unscheinbaren, den herrschenden Prinzipien und Werten entgegenstehenden Ansätzen eine größere Hoffnung auf eine andere Lebensform abzuleiten.

 

"Echter Realismus zieht in seine Betrachtungen nicht nur das ein, was deutlich sichtbar ist, sondern auch das was als Antwort auf unabdingbare Notwendigkeiten im Schoße der Gesellschaft erst heranwächst" (Jungk 1990, S. 14).

 

 

Insofern haben auch reformerische Ansätze die Potenz in sich, ihre ursprünglichen reformistischen Horizonte selbst zu sprengen. Ihre Dynamik ist unaufhaltsam, wenn ihre progressiven Ansätze im selbstorganisierten Handeln der Menschen zu einer Veränderung der Grundsätze menschlichen Handelns führen (Einheit der Veränderung der Umstände und der verändernden Menschen). Mögen auch Unternehmer und konservative Politiker das Konzept NEW WORK vielleicht mit dem Ziel unterstützen, eine neue sich selbst ausbeutende Unternehmer- und Eigenarbeiterschaft zu erhalten - die Menschen erleben hier oft erstmals, was es heißt, etwas Selbstgewähltes "wirklich, wirklich" zu wollen. Und dieses Erleben wird sie vielleicht erstmals die Grenzen der Profitwirtschaft erkennen lassen.

Dies vollzieht sich aber nicht im Selbstlauf, sondern erfordert, daß bei allen derartige Prozesse die Horizonte und Grenzen deutlich gemacht werden, daß sie bewußt über das Vorhandene hinausgeführt werden. Dies darf jedoch nicht unter der Führung von wenigen "weitsichtigen" Menschen geschehen, sondern erfordert das Herstellen von Bedingungen für die Selbstorganisation der Menschen. Äußerst problematisch ist es, die herrschenden Strukturen und Machtverhältnisse benutzen zu wollen, um eigene soziale und ökologische Ziele durchzusetzen (vgl. Bergstedt 1999). Wichtig ist es dann, strategisch und taktisch immer auch die herrschenden Strukturen selbst tendenziell und praktisch zu überschreiten. Dabei muß man ihre inneren Widersprüche und ihre Kontraproduktivität aufdecken, statt sie zur eigenen Interessendurchsetzung vielleicht noch zu verdecken und "zuzukleistern".

Im günstigsten Fall kann die Technik des Aikido im übertragenen Sinne genutzt werden: Dabei wird die Angriffsenergie des Gegners nutzbar gemacht und verstärkt auf den Angreifer zurückgeführt. "Nicht Gegnerschaft, sondern ihre Aufhebung ist das Ziel" (Zöllner, 1998).

Praktisch ergeben sich aus den Erfahrungen bisheriger alternativer Bewegungen weitergehende Aufgaben (Bergstedt 1999):

  • Gewährleistung unabhängiger Strukturen (neue Aktionsstrukturen - politische Gegenstrukturen aufbauen),
  • Aufrechterhaltung der selbstbestimmten Aktionsfähigkeit (Flexibilität, Effizienz, Vernetzung, Kooperation),
  • klare Ziele innerhalb umfassender Konzepte,
  • Schaffen von Kristallisationspunkten.

Wesentliche Veränderungsprozesse vollziehen sich entsprechend dem allgemeinen Muster des sprunghaften Qualitätswandels:

 

 

 

Möglichkeitsräume in verschiedenen Phasen der Entwicklung in der Nähe von Qualitätsveränderungen

Symbolisches Durchbrechen der Mauer durch einen kleinen Schmetterling


- Aus dem Manuskript des zweiten Bandes zum Buch:
"Daß nichts bleibt, wie es ist..." - Perspektivenkapitel, Stand: Januar 1999 - Literaturangaben in diesem Buch -

 

 

Zu Perspektiven siehe auch:

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