Ansätze zum Anders-Leben

 

Auch in Europa gab es immer Bestrebungen, mit dem "Anderen Leben" nicht erst bis nach einer Revolution zu warten, sondern innerhalb des Kapitalismus Keime und Inseln alternativer Wirtschafts- und Lebensformen zu schaffen. Genossenschaften, Alternativbetriebe, Ökodorf- und Kommunegedanken und -praxis verbreiteten sich dann nochmals nach 1968. Nachdenklich kann folgende Kritik an dieser Praxis stimmen: "Sie dienen in der Totalitaet des Weltkapitals zur Abfederung der Krise. Aehnliche Modelle gab es auch schon vor und ab 1929 - die aber die Barbarei [Faschismus, Krieg, Massenelend] nicht verhindern konnten. Die "Alternativbewegung" der 70er Jahre ist auch klaeglich gescheitert..." (Gödde 1998). Ich denke aber nicht, daß man hierüber ein solches endgültiges Urteil sprechen kann. Alle diese Lebensformen haben letztlich auch einen Wert für sich selbst, sie waren/sind nicht nur da, um etwas Endgültiges, Siegendes durchzusetzen. Jeder Jahreszyklus Selbstversorgung ist ein Sieg gegen die Wertvergesellschaftung des Kapitals. Auch ich selbst trage viele Impulse der angeblich gescheiterten Alternativbewegung in mir. Insofern ist sie also nicht gescheitert. Daß sie in den letzten Jahrzehnten nicht über den Kapitalismus hinauswachsen konnten, ist nicht die "Schuld" der Alternativen (welche andere hätte es denn außer dem Staatssozialismus geschafft?). Es zeigt nur, daß sie innerhalb des Kapitalismus auf "seinem Feld" (der effektiven Ausbeutung und darauf beruhenden Profitbildung) nicht konkurrieren konnte. Bedingungen für eine Bevorzugung anderer Faktoren im Konkurrenzkampf hat es noch nicht gegeben.

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Im Moment entwickelt sich innerhalb Deutschlands der Keim für ein größeres Ökdorf in Poppau, das auf dem Wissen beruht, daß produktive Selbstversorgung eine gewisse Mindestgröße von einigen hundert Personen braucht (vgl. Rundbrief Ökodorf). Hierfür die Ressourcen zu bekommen, erweist sich allerdings als schwierige Aufgabe, die auch die Gestaltung des menschlichen Miteinanders schwerer macht (Streß, Selbstausbeutung, Orientierungsprobleme zwischen Staatsunterstützung und Unabhängigkseitsstreben etc.). Dem Problem, sich innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft mit den Maßstäben der auf Ausbeutung beruhenden Effektivität messen zu lassen, unterliegen auch die verschiedenen Alternativbetriebe, oft selbstverwaltet und ökologisch orientiert (vgl. Rundbrief Alternative Ökonomie). Auch hier haben sich frühere Hoffnungen, innerhalb des Lebens der AktivistInnen um 1970 noch Entscheidendes in der Gesellschaft zu verändern, nicht erfüllt. Trotzdem würde ich diese vielen anders gelebten Leben nicht als "gescheitert" betrachten wollen. Gerade diese Keime werden grundlegende Erfahrungen bieten unter endlich zu verändernden und veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

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Es entstehen immer wieder neue Netzwerke alternativer Jugendkultur, wie die Jugendumweltbewegung mit ihrem Konzept: "anders leben und arbeiten" (vgl. Torbecke 1996). Dabei treten immer wieder Konflikte zwischen älteren Aktivisten und den neu dazustoßenden Jugendlichen auf, die berechtigt oder unberechtigt im Verhalten der nur wenig Älteren schnell Elitarismus wittern. Letztlich lernen so viele Jugendliche in verschiedenen "Wellen" durch Handeln Kräfte der Selbstorganisation zu entwickeln. Der Spannungsbogen von Aktion und "normalem" Leben hilft ihnen, auch für das "normale" Leben neue Orientierungen zu finden und in die Gesellschaft zu tragen. Diese Bewegung vollzieht sich in Wellen, entsprechend den immer wieder nachwachsenden jungen Leuten, die den jeweils älteren nicht folgen, sondern Neues probieren, ihre eigenen Erfahrungen machen und doch auch voneinander lernen. Nach dem Projekt der "Großraumkommune" Anfang der neunziger Jahre versucht derzeit das Konzept "Radikal leben" (Bergstedt 1998) für "radikale (Umweltschutz)Arbeit" neue Impulse für den Verbund verschiedener Projekte auf Basis recht klarer Grundpositionen zu geben. Alle Aktionen und Gruppenprozesse sollen "selbst Keimzelle sein... für den Aufbau einer menschlichen, unterdrückungs- und ausbeutungs freien Welt".

 


- Aus dem Manuskript des zweiten Bandes zum Buch:
"Daß nichts bleibt, wie es ist..." - Perspektivenkapitel, Stand: Januar 1999 - Literaturangaben in diesem Buch -

 

 

Zu Perspektiven siehe auch:


 

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- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 1999 - http://www.thur.de/philo/andersleben.htm -