Gefahren für alternative Ansätze innerhalb der alten Strukturen

Jörg Bergstedt macht im zweiten Band seines Buches: "Agenda, Expo, Sponsoring - Perspektiven radikaler, emanzipatorischer Umweltschutzarbeit" auf folgendes Problem aufmerksam:
Viele scheinbar alternative Ansätze stellen die Herrschaftsstrukturen nicht in Frage, sondern versuchen, sie für ihre Zwecke einzusetzen und damit zu stärken.
Indem sich Alternativbetriebe den herrschenden Strukturen anpassen, um maximal von diesen zu profitieren, verzögern sie den Kollaps des kapitalistischen Systems und stärken damit die Herrschaftsstrukturen.
Was Alternative früher als Selbstverständlichkeit ansahen ("Keine Staatsknete!"), muß heute erst wieder betont werden: Alternative Ziele können nicht mittels herrschender Machtstrukturen umgesetzt werden. Bergstedt betont deshalb die Notwendigkeit des Stellens der Machtfrage und der Unabhängigkeit der eigenen Strukturen.

Zusätzlich haben wir das Problem, daß eine neue Gesellschaft das Mittun aller Menschen erfordert - eine Führung durch eine selbsternannte "Avantgarde" nicht hinnehmbar ist. Hier steht folgendes Problem: Die Menschen - zumindest in den Zentren - bleiben ja nicht nur deshalb dem System verhaftet, weil sie unmittelbarer Gewalt und Herrschaft unterworfen würden - sie identifizieren sich mit diesen Strukturen, weil sie ihn all ihren Lebenserfahrungen als "natürliche" Voraussetzungen vorangehen. Die Orientierung auf Geld zur Wunscherfüllung, das Jobleben mit Karriere als normales und wünschbares Leben, die Fixiertheit auf ökonomistisches Denken in Rentabilitätskategorien sind nicht nur subjektive Irrtümer oder per Zwang oktruierte Ansichten. Die Ausrufung von Selbstbestimmung und Emanzipation allein würde auf dieser Grundlage kaum ausreichen. Es bleibt bisher nur ansatzweise begonnene Aufgabe, die Veränderung der Umstände mit der Selbstveränderung der Akteure zu verbinden.

Für uns selbst, als Akteure mit dem schon vorhandenen Interesse, die Zustände zu verändern, gibt es aber auch widersprüchliche Anforderungen. Einerseits wollen wir Ergebnisse erzielen - andererseits unserem Umgang miteinander auf neue Weise gestalten. Wenn wir auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation setzen, kann niemand anderen das Tempo und die genaue Richtung seiner Entwicklung vorschreiben wollen. Wir müssen uns Zeit lassen können und Geduld miteinander haben. Allerdings kommen wir dann nicht schnell zu maßgeblichen Erfolgen. Wenn wir locker und aufeinander Rücksicht nehmend (d.h. selbst organisierend) alle Prozesse untereinander abstimmen, brauchen wir Zeit und verlieren "Schlagkraft" und Geschwindigkeit. R. Schwendter diskutiert dieses Umsetzungsproblem ebenfalls und verwendet das sog. Grenzeffektivitätsmodell (Schwendter o.J.):

 

 

Leistung und Zufriedenheit widersprechen sich. Verschiedene Organisationsstrukturen erfüllen diese Maßstäbe jeweils unterschiedlich (sternförmige Hierarchie, Kettenform, kreisförmige Gleichheit).

 

 

Wird eine bestimmte Leistung als notwendig vorausgesetzt, stehen nicht mehr alle Möglichkeiten zur Verfügung.

 

Je erfolgsorientierter gearbeitet wird (hohe Mindestleistung), desto weniger Lockerheit und Offenheit für die unplanbare Selbstbestimmung der Teilnehmer ist möglich. Schon die Fixierung von Vereinssatzungsformulierungen auf die Anerkennung der Gemeinnützigkeit zerstört u.U. interne inhaltliche Klärungsprozesse. Das Beantragen von Fördermittel und deren Bedeutung schiebt monetär-adminstrative Tätigkeiten in den Vordergrund und verändert die Zielorientierung der Gruppe mehr oder weniger unmerklich (nicht mehr die inhaltlich bestimmten Ziele bestimmen die Existenz, sondern der Kampf um die Existenzerhaltung bestimmt die Arbeitsweise und verändert damit auch die Zielstellungen).

Es ist auch ein prinzipielles Problem, Planung und Offenheit abzustimmen. Die Aktionen "X-1000mal quer" gegen Castor-Transporte definieren sich als gewaltfreie Aktionsgruppen, die sich libertär und horizontal per Bezugsgruppen organisieren. Entscheidungen benötigen unter diesen Umständen viel Zeit und es entsteht die Frage nach legitimen Entscheidungsgremien. Solche Prozesse bewegens ich zwischen der Gefahr der "Tyrannei der Strukturlosigkeit" und der "informelle Eliten" und einer impliziten "straffen und hierarchischen Organisation".

In Indien vernetzten sich Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre die "Non-Party Political Formations". Leider gelang im Weiteren keine überregionale Vernetzung, sondern die Gruppen entwickelten sich unterschiedlich. Einige wurden zu entradikalisierten Nicht-Regierungs-Organisationen, andere begannen sich innerhalb des bestehenden politischen Systeme zu integrieren (Parteien, Quotenforderungen) (Marin 1997)

Bereits 1957 hat der Soziologe Michels Faktoren aufgeführt, die zu neuen Herrschaftsstrukturen führen können: Desinteresse der Beherrschten, Dankbarkeit der Beherrschten gegen "altverdiente Führer", Arbeitsteilung, Bildungsdifferenz, Integration durch den Staatsapparat, Ideologie der Komplexität, langfristige Amtsdauer, Indirektheit der Vertretung, Bürokratisierung usw. (nach Schwendter o.J.). Wenn man diesen Gefahren ins Auge sieht, besteht die Chance, ihnen bewußt entgegen zu arbeiten.

Auch die mit den neuen Konzepten verbundene Orientierung auf Dezentralisierung und Regionalisierung ist nicht unproblematisch. Einerseits kann sie echte Verarmung in den Peripherien legitimieren - andererseits als Form der Internationalisierung in die herrschende ökonomische Globalisierung eingebunden sein (Hüttner 1997).

"Das "Lokale" ist ein Versprechen, aber es kann auch eine Drohung sein." (Dirlik 1998, S. 8).

  • Es bedeutet eine Überhöhung des Konkreten gegenüber dem abstrakten, des Einfachen und Schaffenden, gegenüber dem Raffenden und Komplizierten" mit antisemitischer Konnotierung (Hüttner 1998, S. 4)
  • Auch ein hegemoniales System agiert lokal: Im lokalen Stadtmarketing konkurrieren verschiedene Städte gegeneinander um die besten "weichen" Standortfaktoren (ebenda).

Regionalisierung kann also als Unterfütterung der kapitalistischen Standortpolititik (ebenda S. 7) dienen. Die Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur im Rahmen des Mottos "Zukunftsfähigkeit" ist nicht automatisch Gegensatz zur Globalisierung, sondern eine "gesunde Regionalwirtschaft (ist) notwendige Voraussetzung für den Erfolg von Globalisierungsstrategien ausgewählter Unternehmen aus der Region" (Loske 1997, S. 2).

Speziell der Kommunitarismus stellt nicht das System in Frage, sondern will es durch "Gemeinschaftsdienste" erträglicher machen (Sana S. 114).

Insgesamt unterliegen alle Ansätze alternativer Ökonomie der Gefahr der Selbstausbeutung. Die Gefahr des Entstehens "neuer Geschäftsführer" wird von den Alternativen selbst als Dauerbrenner thematisiert. Durch die Orientierung auf Aktivitäten innerhalb des Systems kann sich der alternativökonomische Bereich als "Reparaturwerkstatt des Imperiums" (Sana S. 121) entwickeln.

Im Problematischsten ist eigentlich die Situation, wenn ein früher emanzipativer Vorschlag verändert von politischen Kräften aufgegriffen und in die Systemlogik integriert wird. Aus der befreienden Forderung nach Existenzgeld wurde mittlerweile ein Bürgergeld als Eingliederungshilfe in "Bürger-zwangs-arbeit" statt Emanzipation von Arbeit.

Kritisch (beim Existenzgeld, aber auch bei alternativer Wirtschaft allgemein) ist besonders das Einlassen auf Geld bzw. Geldersatz, weil dies weiterhin gesellschaftliche Strukturen der Isoliertheit von Produzenten (und damit Vergesellschaftung über abstrakten Werte) voraussetzt und nicht aufhebt.

 

"Wenn man sich nur ums Geld streitet, ist man kein Rebell mehr, man ist schon ein Bourgeois, oder genauer: ein Möchtegernbourgeois" (Sana, S. 113).

 

Der Ausweg besteht nun allerdings nicht in dem Aufgeben alternativer Wirtschafts- und Lebensformen, sondern der ständigen Selbstkritik. Sie müssen zwar innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft überleben – sich aber vor der Integration in die Wert-Vergesellschaftung bewahren. Offen ist noch, daß "kein einziger Entwurf bekannt ist, der auch nur plausibel machen würde, wie auf dem Wege zu einer Selbstverwaltungsgesellschaft mit den muiltinationalen Konzernen umgegangen werden sollte" (Schwendter 1986a, S. 290).

Vielleicht gelingt es den kleinen Keime für alternative demokratische und ökologische Ansätze auch nicht, schnell genug die Fehlleistungen des sich immer mehr von den Lebensbedürfnissen entfernenden Kapitalismus aufzufangen und sich zu einem gesamtgesellschaftlichen Netzwerk einer anderen Lebensweise zu entwickeln. Die Zerfallsprozesse rufen dann Tod und Elend, Verwirrung und Desorientierung hervor. Alternativen erfordern bewußte Aktivität - die vielleicht nicht bei genügend Menschen vorhanden sein wird. Die meisten ent-täuschten Menschen werden nach schnellen und sicheren "Lösungen" verlangen, ihr bisher übliches passiv-abwartendes Verhalten wird Gruppierungen den Weg freilassen, die die verunsichernde Lage ausnutzen, um ihre Vorstellungen von "Ruhe und Ordnung" durchzusetzen (Auch diese können vom "Schmetterlingseffekt" profitieren!). Im schlimmsten Fall gelingt ein wirklich progressiver Neuaufbruch erst im aufgezwungenen Befreiungskampf aus dieser unhaltbaren Situation heraus - oder auch überhaupt nicht mehr.

 


- Aus dem Manuskript des zweiten Bandes zum Buch:
"Daß nichts bleibt, wie es ist..." - Perspektivenkapitel, Stand: Januar 1999 - Literaturangaben in diesem Buch -

 

 

Zu Perspektiven siehe auch:


 

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