Umfassende Bereiche:
jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war; es ist vor meinem Blick vergeistigt und trägt das eigne Gepräge des Geistes: stetes Fortschreiten zum Vollkommnern in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht." (Fichte)
1. Die Aktualität Schellings
Schelling hatte mit den Naturforschern seiner Zeit eine enge Verbindung
und inspirierte einige von ihnen mit seinen spekulativen Ideen.
Die Hegelsche Philosophie dagegen fand unter Naturwissenschaftlern
kaum Liebhaber. Nachdem auch Schellings Philosophie lange Zeit
nur wenig rezipiert wurde, wurde er Anfang dieses Jahrhunderts
wiederentdeckt. Im letzten Jahrzehnt nun gibt es eine neue Welle
der Bezugnahme auf Schelling, weil seine Naturphilosophie geeignet
erscheint, erstens die neuen Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen
Selbstorganisationskonzepte zu unterlegen und zweitens ein ökologischeres
Verständnis des Verhältnisses der Menschen zur Natur
zu begründen als z.B. Hegel. Andere Wissenschaftler hingegen
warnen vor einer "unkritischen Übernahme Schellingscher
Gedanken" infolge "eines bodenlosen Spiels mit Begriffen
und Analogien" (Küppers 1992, S. 118). Nun, ob Übernahmen unkritisch erfolgen, muß man im Einzelnen sehen. Ich habe das nirgends gefunden. Aber ein interessantes Hinterfragen von Standpunkten aus philosophischer Sicht allemal.
Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie M.-L.Heuser betont,
die alte Naturphilosophie nur als historischen Vorläufer
moderner Konzepte zu betrachten, sondern an die spekulative Naturphilosophie
anzuknüpfen und sie auf Grundlage gegenwärtiger
naturwissenschaftlicher Ergebnisse weiterzuentwickeln (Heuser
1990, S. 40).
Ich selbst werde beim Evolutions-Thema
auch eher davor warnen, allzuviel aus Schelling herauszulesen,
weil er m.E. doch letztlich ein recht statisches Weltbild hat
und die "Logik" der Evolution - die Dialektik
- besser bei Hegel erfaßt ist. Das trübt aber nicht
meine Verwunderung, wie weitsichtig und konzeptionell tiefgründig
seine sich weit im Vorfeld der Wissenschaft vorantastenden Welt-Anschauungen
angelegt sind.
2. Schellings An-Sichten
Schellings Ansichten zur Entwicklung sind nicht ganz eindeutig
formuliert, ändern sich im Laufe der Zeit mitunter wesentlich
und erfordern die jeweils genaue Beachtung der Blickrichtung,
aus der etwas betrachtet wird.
Zusammenfassend soll gleich auf Folgendes aufmerksam gemacht werden:
Schellings Philosophie ist eine Identitätsphilosophie. Primär
ist das Un-Bedingte in seiner Identität als Subjekt-Objekt.
Die nur gedachte Trennung von Unendlichem und Endlichem, von Subjektivem
und Objektivem enthält auch eine nur gedachte Trennung von
(unendlicher, außerzeitlicher) natura naturans und (endlicher,
zeitlicher) natura naturata. Die natura naturans kann sich
nur realisieren in einer unendlichen zeitlichen Folge in Form
endlicher Produkte - die Produkte der natura naturata enthält
in sich immer die natura naturans als ihre Seele in (nur quantitativ)
verschiedener Potenzierung.
Metaphysisch sind diese Naturen Eine. Nur im Denken werden sie
getrennt. Daraus ergeben sich für das Entwicklungsdenken
zwei Tendenzen:
1. Für die natura naturans (und ihr Ausdruck/Affirmation
in den Produkten der natura naturata) ergeben sich Aussagen über
die Entwicklung, die in weiten Strecken sehr weitgehende Vor-ahnungen
moderner Selbst-Organisationskonzepte sein können. Auf dieser
Ebene ist die Quelle der Autonomie von Natur und Mensch in einer
gemeinsamen ursprünglichen Tätigkeit zu suchen. Hier
ist Schelling einer der ersten Forscher, die verstehen, daß
Natur nur als sich entwickelnde Natur richtig zu verstehen ist.
In der Bestimmung der Veränderung und des Wandels als Realisierungserfordernis
des Einheitlichen in der Mannigfaltigkeit geht er auch über
Spinozas Substanzdenken hinaus.
2. In der Gesamtbilanz jedoch überwiegt die Ansicht, daß
die natura naturans als Ganze sich nicht entwickelt, sondern außer
aller Zeit besteht und alle Möglichkeiten verwirklicht enthält.
Nur in der natura naturata gibt es Wandlungsprozesse, die jedoch
in der Anschauung des Absoluten "nichtig" sind.
Entwicklung im Bereich des zeitlichen Existenz ist also nach Schelling
kein wesentliches philosophisches Thema. (Für den Naturphilosophen
müsse die Natur ein Unbedingtes sein. "Dieß aber
ist nicht möglich, wenn wir von dem objektiven Seyn in der
Natur ausgehen." (1799a).) Nur insofern das zeitlich Existierende
mit dem absoluten Wesen verbunden ist, findet es sein "wahres
Seyn", nicht in einer offenen Evolution. Das interessierende
Ganze "bleibt bei dem Wechsel des einzelnen... sich stets
gleich".
Diese grundlegende Bestimmungen von Ruhe im Unendlichen und Wandel
im Endlichen ist der stabile Hintergrund im Schellingschen Denken.
Im Konkreten betont er in verschiedenen Epochen unterschiedliche
Aspekte. Erst dachte ich, daß er seine Meinung selbst so
oft geändert hätte. Aber bei Beachtung seiner grundlegenden
Systematik (Identität, aber auch Unterschied von natura naturans
und natura naturata) ist die jeweils unterschiedliche Akzentuierung
bei beibehaltenem Grundkonzept deutlich zu erkennen.
Bereits in seinen ersten Schriften (1795/96) betont er, daß
es Entwicklung nur für Produkte und Dinge gibt, die Scheinprodukte
in der Schwebe zwischen unendlicher Produktivität und deren
Hemmung sind. Für den Menschen besteht noch die Aufgabe,
das, was ihm möglich ist, wirklich zu machen. Aber dieses
steht nicht im Unbestimmten, Offenen, sondern ist bereits "außer
aller Zeit" in seinem Wesen festgelegt. Ausdrücklich betont Schelling, daß es nur einen Schein der Naturgeschichte und einen Schein der Freiheit gebe. Er unterscheidet dann noch zwischen den tierischen Organismen und den Menschen sowie jeweils zwischen Individuum und Gattung. Den Tieren als Individuum kommt kein Progreß zu, weil sie eingeschlossen sind in einen Zirkel von Handlungen, über den sie nie hinaustreten. Der Mensch als Individuum dagegen kann noch selbst Geschichte machen.
"Dem Menschen aber ist seine Geschichte nicht vorgezeichnet,
er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen" (Schelling
1796/1797). Eine Geschichte der Tiergattungen ist in verschiedener Weise denkbar: a) Alle einzelnen Organisationen bezeichnen nur verschiedene Stufen der Entwicklung einer und derselben Organisation.
b) Der jetzige Zustand der organischen Natur ist von dem ursprünglichen
höchst verschieden.
Im zweiten Falle wäre, wie Schelling bereits erkannte, die
Menge scheinbar verschiedener Arten auf Abartungen derselben Gattung
zurückführbar.
Schelling entschied sich hier für keine der Varianten, hob
aber hervor, daß in beiden Fällen eine Geschichte nur
für Gattungen angenommen werden kann, weil nur dann die Einheit
(Congruenz mit einem Ideal) in der Vielheit (Abweichungen im Einzelnen)
gesichert ist.
Geschichte ist überhaupt nur für Wesen, die den Charakter
einer Gattung ausdrücken, möglich. In diesem Sinne hat
das Menschengeschlecht als "Ein Ganzes" Geschichte (Schelling
1796/1797). Diese Gattungsgeschichte hat jedoch ein Ideal vor
sich, wobei durch den Gattungscharakter bei allen Abweichungen
im Individuellen die Congruenz der Gattung mit diesem Ideal gesichert
ist.
1798 betont er wieder die ursprüngliche Bewegtheit, die Produktivität
der Natur (als natura naturans). Diese Produktivität ist
aber "nicht in der Zeit", sondern "das Seyn selbst".
Natur als zeitliche Evolution entsteht nur, wenn es als Objekt
genommen wird - was aber nicht im Interesse Schellingscher Philosophie
steht. Die Konstruktion der Natur, die er 1800 beschreibt, ist
gerade nicht die historische Evolution, sondern eine Konstruktion
im Denken. Zeit entsteht dabei, damit das Selbstgefühl sich
selbst zum Objekt werden kann. Wir können nicht wissen (sonst würden wir es zum Objekt machen, was laut Definition mit dem Absoluten nicht geschehen darf), sondern nur glauben (anschauen), daß das Objektive (Gesetzmäßige) und das Bestimmende (Freie) durch eine höhere absolute Identität zusammenpaßt. Diese Voraussetzung der Identität von Freiheit und Gesetzmäßigkeit aber führt zum Begriff des Ideals als deren Einheit. Dieses Ideal steht dann aller Geschichte voran. Um seine vorausgesetzte Identität in der Philosophie verwirklichen zu können, kann Schelling nichts offen lassen, auch nicht für kreative Prozesse der Erzeugung von Neuem. Alles ist bereits im Ideal vorhanden. Alles Mögliche ist bevorratet im außerzeitlichen Absoluten, nichts wird neu möglich.
Mit dem Wissen dieses schelling´schen Grundsatzes ist es
auch nicht mehr mißzuverstehen wenn er sagt: "Dieses
Wiederentstehen und Wiederaufheben des Gegensatzes in jedem Moment
muß der letzte Grund aller Bewegung sein." Es sind
keine neuen Gegensätze, die entstehen und die Bewegung voranbringen.
Es ist nur immer wieder der ursprüngliche Gegensatz selbst,
der nie vollständig synthetisiert, immer wieder nur momentan
aufgehoben wird.
Für die geschichtliche Entwicklung der Menschheit sagt er
zwar einerseits, daß der Mensch gerade deswegen Geschichte
habe "weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum
voraus berechnen läßt". Aber die "Geschichte
als Ganze ist eine fortgehende, allmählich sich enthüllende
Offenbarung des Absoluten" über verschiedene Perioden
hinweg (Zerstörung von Großem und Herrlichem - was
er 1804 noch stärker betont - und darauffolgende Entwicklung
der Vorsehung).
Noch deutlicher wird er 1801, wo er eindeutig sagt: Entstehung
in der Zeit gibt es nicht. Die Stufenleiter des Seins gibt es
von jeher. Die Potenzen sind absolut gleichzeitig. "Die Erscheinungswelt
ist daher nichts anderes als das Phänomen, die successive
Erscheinung dessen, was an den Dingen nicht ist, was durch die
Idee der vollendeten Welt vernichtet ist, oder sie ist die successive
Entwicklung jener in Gott ewigen Vollendung der Dinge, indem ja
die Zeit, in der alle Erscheinung ist, nichts anderes ist als
eben die Erscheinung des Vernichtetwerdens alles dessen, was nicht
an sich ewig ist, was in der vollendeten Idee der Welt nicht begriffen
ist, nicht zur Idee Gottes gehört."
1806 ist es nicht mehr zu überhören: Das Zeitleben ist
nichtiges Leben. "Eine Zeit und Zeiten, als solche, magst
du wohl denken <d.h. natura naturata getrennt von natura naturans>;
sehen, wenn du siehst <anschauen>, nur die eine, immer ruhende
Ewigkeit." <Ergänzungen von mir, A.S.>
Gott, wie er das Absolute nun auch nennt, ist eine ewige Schöpfung
ohne Handlung und Bewegung, als stetes ruhiges Wetterleuchten
aus unendlicher Fülle. Dieses Bild nimmt er 1809 wieder auf, als er Gottes Grund als ein "wogend wallend Meer" von Gott selbst unterscheidet, um sich vom Pantheismus-Vorwurf zu befreien.
Die stufenweise Entfaltung, mit der sich der dunkle Grund Gottes
lichtet, macht das Wunder seines Wesens offenbar. Schelling deutet
hier eine auch für ihn neuartige Dynamik an. Er deutet das
Sein jetzt als Aufstieg, in dem der Geist der Liebe Gelegenheit
hat, im nicht entschiedenen Kampf von Licht und Finsternis einzugreifen.
Die Finsternis und das Böse sind als Grund notwendig, damit
aus ihm das Gute sich durch eigne Kraft herausbilden kann. Wenn
in der Zukunft alles als Gewordenes zurückkehrt in Gott,
so war das kein Kreislauf, sondern indem die Früchte verschiedener
Zeiten in Einer Zeit zusammenleben werden, ist die neue Einheit
in Gott eine aus Mannigfaltigkeiten gebildete. Dieses Modell in seiner ganzen Kompliziertheit kann betrachtet werden unter der verständlicheren Dialektikinterpretation von Ken Wilber: Ursprünglich bestand die Einheit in einer ungetrennten "Fusion". Diese Fusion zerbrach, Differenzierungen entstanden. Diese sind notwendig, damit eine erneute Einheit als Integration der differenzierten Teile entstehen kann. Auch diese Einheit ist dann wiederum (bei Wilber!) Ausgangspunkt einer erneuten Differenzierung...
Denkansätze zu einer solchen iterierten Dialektik sind auch
bei Schelling in der Selbstobjektivierung der jeweiligen Subjekte
enthalten, wobei tendenziell das Subjekt über das Objekt
siegt.
Um Genaueres über die späteren Meinungen Schellings
zu sagen, hat er zu wenig systematisch aufschreiben können.
3. Selbstorganisation und notwendige
Ergänzungen aus der Sicht der Entwicklungstheorie
Das Autopoiesis-Konzept betont, daß alle Dinge
sich in Prozessen verwirklichen, wobei das Ganze des Systems
durch eine Wechselwirkung der Teile ständig neu reproduziert
wird und die Teile selbst nur existieren als Teile dieses Ganzen.
Das Konzept der Selbstorganisation nach Prigogine
geht weiter und fragt nach der Entstehung strukturierter
Gebilde.
Daß diese strukturierten Gebilde nach einem Selbstorganisationssprung
i.a. eine neue Stufe kollektiver Ordnung darstellen, betont
die Synergetik nach H.Haken.
Alle drei Konzepte stellen Modelle bereit, Naturzusammenhänge
mit wissenschaftlichen Methoden darzustellen, die Schelling vor
200 Jahren spekulativ voraussagte.
Alle drei Konzepte entsprangen dem Bestreben, die Einheit in der
Natur nachzuweisen. Sie versprechen, universelle Aussagen machen
zu können. Angesichts der vorherrschenden zersplitterten
Weltsicht versprechen sie die aufkommende Sehnsucht nach neuen
Ganzheiten erfüllen zu können.
Reicht jeweils ein Konzept oder diese naturwissenschaftlich fundierten
Konzepte gemeinsam aus, um eine ganzheitliche Sicht auf das Universum
und das Werden in ihm zu begründen?
Das Autopoiesis-Konzept entspricht dem Schellingschen
Konzept des Primats des Werdens vor dem ruhenden Sein, es vermag
aber nichts über die Entstehung von strukturierten Prozessen/Dingen
auszusagen.
Das Selbstorganisationskonzept macht Aussagen über
die Entstehung von Strukturen, geht jedoch implizit von einem
Primat des ruhenden Gleichgewichtszustandes aus und weiß
nichts über die entstehenden neuen Zustände.
Die Hakensche Synergetik bildet die Kollektivität
der entstehenden Zustände mathematisch quantitativ ab; Aussagen
über vermutete qualitative Zusammenhänge (Zweckmäßigkeitserwägungen)
müssen zusätzlich hineingebracht werden. Die folgende Tabelle deutet - sehr verkürzt - einige Unterschiede in den Konzepten an, wobei sie schellingsches Denken und eine allgemeine Entwicklungstheorie mit einbezieht. |
Autopoiesis | Selbstorganisation | Synergetik | Schelling | Entwicklungs- theorie |
wie funktioniert es? | wie entsteht es? | Wie geschieht Entscheidung? (Möglichkeitsfelder austesten - Zweckmäßigkeit) | genetisch -historische Komponente in der Naturwissenschaft | Logisches-Historisches... |
stoffliche Materie vorausgesetzt | Wie entsteht Objektivität? | Konkrete Wechselwirkungs- Situation (Wahrheit ist konkret) | ||
systemimmanent,
deterministische Rückkopplung | innovativ-emergent,
im Bifurkationspunkt nicht deterministisch berechenbar | deterministische Berechnung der Möglichkeiten - indeterm. "Entscheidung" | im Absoluten ist alles Mögliche wirklich , d.h. notwendig | Dial. Determinismus...im statist. Gesetzesbegriff |
Prozeß als Werden ist primär | Gleichgewicht ist "Normalzustand", Nicht-Gleichgewicht nur im Bif.-punkt | gekoppelte Diff.-gleichungen, keine Evolutionsglei-chungen | Werden ist primär (in natura naturans, nicht in n. naturata!) | Dialektik von Prozeß und Entwicklung |
nur Driften | Zufall als Bewegungsursache (Freiheit im Zufall) | Selektion entsprechend Zweckmäßigkeit (zusätzlich betrachtet) | Zweckmäßigkeit (Freiheit als produktive Freiheit) | Dial. Freiheit-Notwendigkeit und Zufall/Mgl.-Notw. |
Keine Aussagen über neue Zustände | beschreibt Kooperativität , aber nicht Produktion neuer Moden | höhere Potenzen (ohne qual. Wesensunterschiede) | Höherentwicklung durch Ko-Evolution | |
Jeweils nur Elemente der Entwicklungszyklen | Universalität als historischer Prozeß (in n.naturata) | Folge von Prozessen (ko-evolutiv,deshalb irreversibel) | ||
Fließgleichgewicht | Ungleichgewicht im Bifurkationspunkt | Entstehung verschiedener "Moden" im/nach Bif.-punkt | ursprünglicher Gegensatz nie vollständig synthetisiert | immer neue Widersprüche/ Möglichkeiten entstehen |
jeweils nur ein Schritt der Prozeßfolge betrachtet | Kontinuität der Potenzierung | Wechselw. der Ebenen, Verschachtelung... Ko-Evolution |
(unter Verwendung von Heuser-Keßler 1986)
Beachtenswerte Hinweise von Schelling sind:
Nicht enthalten im schellingschen Denken sind wesentliche Aspekte der Selbstorganisation wie:
Für eine philosophische Entwicklungstheorie
ist also erstens über Schelling hinauszugehen und
zweitens auch über die allgemeintheoretische Selbstorganisation
hinauszudenken.
Das Zweite zuerst: Nicht alle Aspekte der Entwicklung sollten
in die Selbstorganisationskonzepte hineingepreßt werden.
Diese beziehen sich richtigerweise auf je unterschiedliche Einzelaspekte
des ganzheitlichen Entwicklungsprozesses und sollten ihre inhaltliche
Tiefe nicht durch Vermengung verlieren. Allerdings sollten sie
in diesem Rahmen ihre Eigentümlichkeiten ausarbeiten und
sich nicht in einer Verabsolutierung ihres Anwendungsbereiches
verlieren. Daß Schelling nicht alles vorausdenken konnte, sollte auch nicht ihm angelastet werden. Heute können wir mehr wissen über die Entwicklung und Selbstorganisation in der Natur.
Gerade weil es sogar Selbstorganisationprozesse in der
realen Natur gibt, können wir meiner Meinung nach auf die
metaphysische Begründung der Autonomiefähigkeit der
Natur verzichten. Wir beobachten in der Natur Entwicklung (und
Selbstorganisation als ihr Teilprozeß), weil sich die Natur
entwickelt und wir mit und in ihr uns ebenfalls. Natura naturans ist uns nicht nur eine außerzeitliche absolute Substanz, sondern alles, was es in uns und außerhalb von uns gibt ("Materie" in dieser Form definiert).
Manche Fragestellungen von Schelling sind in diesem Sinne zurückgenommen,
negiert, in dem sie aufgehoben (aufbewahrt und verneint) wurden.
Im Speziellen sehe ich weitere Unterschiede zu Schelling: Bei Schelling gibt es nur unterschiedliche Naturpotenzen gleichen Wesens, die gleichzeitig existieren und lediglich Veränderungen im Verhältnis der Grundkräfte darstellen. Dialektik ist deshalb nur ein unendliches Neuaufheben des gleichen ursprünglichen Gegensatzes von unendlicher Produktivität und ihrer Hemmung (es gibt keine qualitativen Stufen mit Wesensunterschieden) . Tatsächlich jedoch sind Strukturniveaus unterschiedlicher Wesensmerkmale zu unterscheiden. Es gibt Zufall, weil nicht alle Prozesse auf der gleichen Ebene wechselwirken, sondern es voneinander unterschiedene wesentliche Zusammenhänge (Gesetze) gibt, die in voneinander unterschiedenen Bereichen existieren.
Möglichkeiten entstehen und vergehen, so wie Gegensätze
und Widersprüche sich aufheben aber auch völlig neu
entstehen können.
Trotzdem ist auch der "reine" Hegel noch nicht die ganze
Wahrheit. Bei ihm sind die Negationen nur negativ bestimmt (Bestimmung
durch das "ist (noch) nicht..."), weil das absolute
Ziel bereits vorausgesetzt ist. Es gibt hier keinen Raum für
wirkliche Kreativität und Neues außerhalb des "Plans
der Vernunft".
Zwei Punkte mächte ich noch erwähnen, bei denen ein
Weiterdenken unbedingt interessant ist:
a) der Gesetzesbegriff/Determinismus: Hier ist eine genauere Unterscheidung
von Zufall (Limitierungsaufhebung) und (konstruktiver) Freiheit
bei der Begründung der Möglichkeiten sinnvoll. Der Zufall
(Stochastik und Statistik) ist notwendig, aber nicht hinreichend
für die Erklärung der Entwicklung/ des Neuen. b) M.-L. Heuser erwähnt den Begriff der konstruktiven Produktion nach Schelling anstelle der Entropieproduktion nach Prigogine (aus Anlaß der Wärmetodfrage).
Inwiefern kann das wirklich weiterhelfen? (Auch Schelling braucht
eine "eigenthümliche Sphäre" für die
äußeren Kräfte, die die Produktivität notwendigerweise
unterbrechen (1799b, S. 373)).
Heuser-Keßler, Marie-Luise: Die Produktivität
der Natur, Berlin 1986
siehe auch:
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