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Schelling und Hegel -

klassische deutsche Philosophie

in Einheit und Widerspruch

Im Jahr 1800 lehrte der erst 25jährige Schelling bereits zwei Jahre lang an der Universität Jena. Fichte hatte die Universität ein Jahr vorher verlassen müssen. Schelling hatte ihn politisch zwar unterstützt, inhaltlich begann er eigene Wege zu gehen. Seine Vorlesungen hatten großen Zulauf. Er erarbeitete gerade das "System des transzendentalen Idealismus", in dem er mit Mitteln der Wissenschaft ein Denksystem der Freiheit errichten wollte. Er folgte Fichte darin, in einem durch nichts bedingten ICH das zentrale Prinzip der Philosophie zu sehen - vereinte aber in diesem ICH das Menschsein und die Natur. Die Aufgabe der Naturphilosophie sollte darin bestehen, in der Natur die "Ichheit", also das Produktive, das Lebendige zu sehen. Erst in dieser allgemeinen Produktivität findet auch das unbedingte, absolute ICH seinen Platz. Als verschiedene Potenzen Einer absoluten Produktivität bringt Schelling die unbewußten und die bewußten Tätigkeiten auf einen Nenner.

Hegel kam erst 1801 nach Jena. Er war schon 31 Jahre alt und in philosophischen Kreisen recht unbekannt. Er brachte grundsätzliche theoretische Überlegungen mit, die auch bereits über Fichte hinausgingen. Mit Schelling war er seit den gemeinsamen Jahre im Tübinger Stift verbunden. Seine erste "richtige" philosophische Schrift beinhaltete die Unterschiede zwischen der Fichte´schen und der Schellingschen Philosophie. Er wiederholt dabei nicht nur deren Meinungen, sondern seine eigene Weltsicht ist vorausgesetzt, um ausgehend von der eigenen Meinung die beiden anderen jeweils einschätzen und einordnen zu können.

Wie auch Fichte und Schelling verarbeitet er die neuesten gesellschaftlichen Erfahrungen aus den praktischen Umwälzungen in Frankreich und den geistigen Turbulenzen in Deutschland. Das philosophische Denken sucht jeweils eine neue Einheit in all der neu aufgebrochenen Gegensätzlichkeit.

"Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie." (Hegel)

Während Fichte sich ganz aufs subjektive ICH (was nicht das empirisch-individuelle meint, sondern die menschliche Ichheit als Ganzes) zurückzieht (und die Forderung nach Einheit von Subjektivem und Objektiven im "Sollen" unsystematisch hinzugefügt werden muß), vereint Schelling das Subjektive und das Objektive in seiner Identitätsphilosophie. Er stellt die Identität in den Mittelpunkt. Aber da bereits bremst Hegel. Er betont, daß zwar die Gegensätze nicht absolut fixiert, sondern aufgelöst werden müssen - daß aber die Gegensätzlichkeit selbst als "Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet" erhalten bleibt. Die Reflexion "muß, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getrennt in zwei Sätzen, in einem die Identität, im anderen die Entzweiung, ausdrücken."

Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität wird aufgehoben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt aus ein Werden, ihr Sein (als Produkte) als ein Produzieren begriffen.

Dies ist von Anfang an ein anderes Werden als es bei Schelling auftritt. Trotzdem ist der Unterschied beider Denkweisen noch nicht völlig offenbart. Schelling und Hegel arbeiten noch einige Jahre erfolgreich zusammen, bis Schelling 1803 Jena verläßt.

Schelling erwartet noch gespannt die erste systematische Schrift Hegels, in der dieser die Geschichte des Geistes bis hin zum "Begriff" nachvollzieht. In der "Phänomelogie des Geistes", die 1807 erscheint, werden die konzeptionellen Unterschiede zu Schelling unübersehbar:

Während Schelling dem Denken nicht zugesteht, das Absolute zu erreichen, sondern auf die Anschauung verweist, entwickelt Hegel eine Folge von sich negierenden Bewußtseinsleistungen, die - bei ihm - schließlich auch eine "Erkenntnis der absoluten Idee" ermöglichen.

Namentlich greift Hegel Schelling nicht an. Er formuliert Kritik an der Meinung "sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind" und bezeichnet dies als "Naivität der Leere an Erkenntnis." An Schelling schreibt er über "Plattheit, die besonders mit Deinen Formen soviel Unfug und Deine Wissenschaft zu einem kahlen Formalismus herabtreibt."

Schelling fühlt sich einerseits mißverstanden, aber auch getroffen. Er schreibt an Hegel: "Inwiefern du selbst des polemischen Teils derselben erwähnst, so müßte ich, bei dem gerechten Maß der eignen Meinung von mir selbst, doch zu gering von mir denken, um diese Polemik auf mich zu beziehen". Gegenüber anderen zeigt sich sein Unmut über die Kritik: er versucht zu erreichen, daß Hegels Werk kritischer rezensiert wird.

Bei nochmaligen kurzen Treffen in den späteren Jahren sprechen sie nicht mehr über Philosophie miteinander, streiten sich also auch nicht übermäßig.

In ihren jeweiligen Vorlesungen nehmen beide inhaltlich zueinander Stellung.

Hegel tadelte das Fehlen wahrhafter Unterschiede und den damit verbundenen Mangel an Dialektik bei Schelling. Etwas deftig spricht er - wieder ohne Namensnennung aber inhaltlich doch reicht eindeutig bezugnehmend - von "rohester Empirie (und) Formalismus von Stoffen und Polen, verbrämt mit vernunftlosen Analogien und besoffenen Gedankenblitzen."

Schelling kritisiert an Hegel, daß dieser für Gott in seiner Bewegung des Begriffs keinen Platz mehr lasse.

An der Systematik Hegels kritisiert er, daß das reine Sein bei Hegel nichts Subjektives enthalte und es deshalb auch kein Fortgehen haben könnte, sondern dieses künstlich hineingeredet würde. "Es ist, wie wenn man Wasser in der hohlen Hand tragen wollte, wovon man auch nichts hat. Die bloße Arbeit, etwas festzuhalten, das sich nicht festhalten läßt, wie es nichts ist, gilt hier statt des Philosophierens. Man kann dasselbe von der ganzen Hegel´schen Philosophie sagen."

Grundlegende Unterschiede im Denken von Schelling und Hegel lassen sich kurz darstellen:

               
Schelling
Hegel
Philosophie als Geschichte des (Selbst-)Bewußtseins
Unterscheidung: Bewußtsein - Beobachten des Bewußtseins
Widerstreit von Tätigkeiten Gleichgewicht: Stoff/ Produkt Einheit aus Widerstreit
nur quantitative Unterschiede (Überwiegen des einen oder anderen Faktors) wesentliche Unterschiede
Ausgangspunkt (das Ich) muß das Subjektive enthalten (Subjekt und Objekt noch nicht differenziert):

Entwicklung schreitet dann fort vom Objekt ins Subjekt <Subjekt als "Triebkraft" - das Ichhafte - der Entwicklung>

völlig unbestimmtes Sein als Beginn, innere Gegensätzlichkeit (dieses unbestimmte Sein ist noch Nichts) treibt weiter...
dazu Hegel in Kritik an Schelling: Identität A=A "hat nun nicht die Dialektik, als durch welche diese Gegensätze selbst zum Übergehen in ihre Einheit bestimmen, sondern die intellektuelle Anschauung (nach Weise äußerer Reflexion) zu ihrer Bewährung...)
Denken erfaßt nur Getrenntes, Anschauung die Identität Hegel unterscheidet Verstand und Vernunft: Vernunft erkennt Identität von Identität und Unterschied
Kunst ist das Höchste, Entwicklung des Denkens fehlt Entwicklung des Geistes: Denken (Vernunft) ist das Höchste

Für das Entwicklungsdenken und die Dialektik ergeben sich auch wichtige Unterschiede:

     
Schelling
Hegel
Subjekthaftes = Ichhaftes als Triebkraft, weil das (nur quantitativ, nicht wesentlich) Gegensätzliche im Identischen allein keine Kraft hat, die Identität zu überwinden und eine neue zu bilden Das (sich im Wesen unterscheidende) Gegensätzliche überwindet Identität selbst und geht weiter...
nur Potenzierung ohne wesentliche qualitative Unterschiede - unendlicher Streit... auf dem "Grund Gottes" Maßbegrenzung bis zum Qualitätssprung...
Gegensätze sind vorgegeben, aber nicht vollständig gelöst... neue Gegensätze entstehen...


Für die Naturphilosophie sind beide Betrachtungsweisen interessant, jedoch ist keine allein hinreichend.

Schellings Formulierungen seiner Dialektik sind naturnäher. Was bei ihm noch "Tätigkeiten", "Handlungen" und "Produkte" sind, werden bei Hegel abstrakte Aspekte des Werdens/Daseins/Etwas/Anderes usw. Diese begriffliche Naturnähe bei Schelling verleitet jedoch dazu, reale Prozesse und metaphysische Begriffe zu verwechseln.

Die "Produktivität" im Schellingschen Sinne ist ein ganz und gar metaphysischer Begriff und ist gerade NICHT die reale ! Oder anders herum: Die Selbstorganisationskonzepte haben gerade erkannt, daß die reale Natur selbst schöpferisch ist und dazu KEIN (metaphysisches) Absolutes braucht.

Hegels "Sein, "Nichts", "Werden"... usw. sind wortwörtlich genommen jedoch auch nicht hilfreich. Interessanter ist die "Logik" der Bewegung der Begriffe.

Während bei Schelling die Triebkraft der Bewegung im metaphysich hineinbehaupteten Subjekt liegt, bekommt bei Hegel jedes Bestimmte selbst die Kraft zur Selbstbewegung.

Daß diese Selbstbewegung auch bei Hegel letztlich in ein höchstes Absolutes mündet und nichts wirklich offen läßt, ist seiner Systematik geschuldet und muß relativiert werden.

Die Konzepte der Selbstorganisation verweisen letztendlich aber gerade darauf, daß kein Absolutes die Entwicklung "steuert", bestimmt, antreibt o.ä. Die Weltbereiche entwickeln sich SELBST - ohne jedes Absolute.

An dieser Stelle jedoch eignet sich die Hegelsche Logik/Dialektik besser als die Schellingsche, das Absolute wegzulassen.

Die allgemeinwissenschaftlichen Konzepte der Selbstorganisation betonen zwar die Allgemeingültigkeit vieler Prozeßformen in allen Bereichen der Welt - nichtsdestotrotz sind die konkreten Mechanismen und Triebkräfte für jeden sinnvoll unterscheidbaren (nach den in ihnen vorhandenen/wirkenden wesentlichen Zusammenhängen = Gesetzen) wesentlich unterschiedlich.

Diese wesentlichen Unterschiede tauchen bei Schelling nicht auf, weil er die Identität überbetont und in ihr nur unwesentliche Potenzunterschiede zulassen kann. Hegel dagegen greift weiter: Bei ihm ist die Dialektik so breit erfaßt, daß die Einheit über unterschiedliche Ebenen hinweg erfaßt werden kann, so daß die Unterschiedlichkeit erhalten bleibt und trotzdem (und gerade deswegen) die Einheit erfaßt wird.

Insofern ist das Hegelsche Denken eine Weiterentwicklung des Schellingschen. Auch diese Entwicklung ist dialektisch: Schellingsche Denkansätze sind wesentlich bei Hegel enthalten, aber bei ihrer Negation auch weitergeführt worden.

Das polemisch so beliebte Herauspicken von passenden Stücken aus jedem Autor scheint im Moment in der Richtung kultiviert zu werden, daß man Hegel so gründlich mißzuverstehen sucht, wie es nur geht - und Schelling dafür im besten Licht beleuchtet.

Ich wollte nicht das Gegenteil tun. Ich bin sehr froh, durch diese Diskussionen auf Schelling verwiesen worden zu sein. Durch die Kenntnis seiner Denkweisen wird auch die Hegelsche Dialektik für mich inhaltsreicher und tiefer.

12.9.96

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