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Rezension von Annette Schlemm: Kim Stanley Robinson: AntarktikaWilhelm Heyne Verlag München 2001
Ich habe mir die total falsche Zeit ausgesucht, dieses Buch zu lesen. In Thüringen erdrückt uns eine schwülheiße Luft – wie soll ich mich da in antarktische Kälte einfühlen? Erstaunlicherweise zeigt sich daran, dass es mir fast gelingt, die Schreibkunst von Kim Stanley Robinson. |
Bei seinen Recherchen für dieses Buch ging er bis an die Grenzen – er zog sich schwere Erfrierungen zu. Von dieser Erlebnistiefe profitiert das Buch ungemein. Wie schon bei seinen Marsbüchern erstaunt das umfangreiche geologische Fachwissen, das Robinson einbringt. Da die Antarktis in der von Robinson vorgestellten möglichen Zukunft noch an der Schwelle zur drohenden Ausbeutung und Zerstörung steht, können sich Wissenschaftler in einer weitestgehend unberührten Wildnis tummeln. Der Antarktis-Vertrag schützte diesen Kontinent – aber er wird immer weiter aufgeweicht, neben Wissenschaftlern treiben sich Touristen und Ölsuchtrupps auf dem Eis herum. Die Antarktis befindet sich an einem "Wendepunkt der Geschichte" – vieles ist möglich. Was real passiert, hängt in hohem Maße von den einzelnen Menschen ab.
Robinson stellt uns verschiedene Menschen mit verschienenen Interessen vor. Die touristenführende Bergsteigerin, den etwas hausbackenen Arbeiter X, einen Öko(sabo)tage-Aktivisten und den Assistenten eines US-Senators, mit dem die LeserInnen den Kontinent und die einzelnen Handlungsorte kennen lernen und besuchen. Was passiert eigentlich auf den fast 700 Seiten des Buches? Verschiedene Gruppen erleben ihren Alltag auf der Antarktis – manchmal wie auf einem fremden Planeten. Faszinierend, aber manchmal – und vor allem für den Arbeiter – auch lähmend langweilig. Wissenschaftler streiten über eine wahrscheinlich warme Vergangenheit des Kontinents, die Touristenführerin begibt sich mit einer Gruppe auf die Spuren der frühen Antarktis-Entdecker. Dieser Alltag wird ein wenig aufgeschreckt: manchmal verschwinden ganze Schleppfahrzeuge und auch die Satellitenüberwachung zeigt mehr Camps an, als die Aufsichtsbehörde kennt. Dieser Alltag lässt mehr als einen interessierten Blick in beeindruckende Landschaften zu. Angesichts des Unterschieds zwischen modernsten Hilfsmitteln der Zivilisation, die auf der Robinsonschen Antarktis genutzt werden und der gefundenen frühen Expeditionsreste, beeindrucken die eingestreuten Berichte über die ersten Entdecker und Forscher der Antarktis uns ebenso wie die Protagonisten. So langsam versteht man, warum so viele Menschen immer wieder zurückkehren in die Antarktis oder – wie sich zeigen wird – sogar eine eigene "wilde" Antarktiszivilisation entwickeln. Aber Alltag, so interessant er auch sei, macht kein Buch. Es passiert etwas: Ökoaktivisten sprengen Bohrcamps und stören die Kommunikationsverbindungen. Die Protagonisten des Buches stecken mitten in dem Chaos – die Touristenführerin kommt mit ihrer Gruppe in tödliche Gefahren. Notgedrungen zeigen sich bisher geheim lebende Antarktikergruppen... Danach kann nichts mehr bleiben, wie es war. Die Situation kann nicht mehr in der Schwebe gehalten werden, das labile Gleichgewicht wurde gestört. Der Wendepunkt ist gekommen. Entweder auf Antarktika wird eine militärische Besetzung installiert, um Ruhe und Ordnung herzustellen und letztlich dem "Götterdämmerungskapitalismus" vorzuarbeiten – oder die Antarktis wird zum Experimentierfeld neuer nichtkapitalistischer Lebensweisen, ökologisch-gemeinschaftlich, genossenschaftlich – "... die Schaukel steht genau in der Mitte, Genossenschaftsbildung gegen Götterdämmerung, sie haben die Waffen, aber wir haben die Massen!" (S. 669). Ich denke, es ist genau die richtige Zeit, dieses Buch zu schreiben und zu lesen. Gelesen: Die Stimme des Südens gegen "nördliche" Umweltaktivisten:
Antwort (des Anwalts) des Ökofreaks:
Umwelt und Soziales:
"Soziale Gerechtigkeit ist ein notwendiger Bestandteil jedes funktionierenden Umweltschutzprogramms." (S. 637) Demokratie:
"Die Vorstellung, jedes Unternehmen könnte im Innern eine feudale Monarchie sein und sich nach außen dennoch wie ein demokratischer Bürger verhalten, der sich um die Welt sorgt, in der wir leben, ist eine der großen Absurditäten unserer Zeit..." (S. 636f.) Gerechtigkeit: "Er sah mit jedem Tag deutlicher, dass die großen Schlagwort-Ideen wie Demokratie, freier Markt, technische Weiterentwicklung, wissenschaftliche Objektivität und historischer Fortschritt allesamt Mythen vom gleichen Niveau wie das feudale göttliche Recht der Könige waren: eigennützige Alibis, mit deren Hilfe eine Minderheit Reicher und Mächtiger die Welt beherrschte. Die heutige Gesellschaft war wie jede Gesellschaft vor ihr seit Sumer und Babylon ein riesiger Schwindel, eine Art Schneeballsystem, mit dem der Reichtum der Welt zu den Reichen geschleust wurde; und die Natur wurde zerstört, um die obszön dicken Bankkonten von Leuten zu füllen, die auf Privatinseln in der Karibik lebten." (S. 61) Politikformen:
Das utopische Moment in der Wissenschaft: - sich selbst organisieren |
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