3.2.6 Vernunft als zweckmäßiges Tun

Der Übergang vom Verstand zur Vernunft zeigt sich auch an der Unterscheidung von Ursache und Zweck. Während eine Ursache dazu führt, dass etwas in ein anderes übergeht, ist der Zweck dasjenige, durch das sich etwas so verändert, dass es sich erhält (HW 8: 360). Diese Art, das Wirkliche zu betrachten, ist vor allem beim Organischen angemessen. Für Lebendes ist dasjenige zweckmäßig, was die Lebendigkeit erhält. Wie sich Organismen bewegen und entwickeln, folgt einer inneren Notwendigkeit, nicht äußeren Zwängen. Wenn wir über Zwecke sprechen, so erklären wir etwas auf Grundlage seiner Rolle als Teil eines Ganzen.

Eine noch unvollkommene Betrachtung ist die Betrachtung der Zweck-Mittel-Relation unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Beliebige Zwecke können mit diesen oder jenen Mitteln realisiert werden. Die Ziele sind dem Ganzen noch äußerlich. So ist das beispielsweise auch beim Bau von Häusern. Das Haus erfüllt die Wohnbedürfnisse der Menschen, die Zweckmäßigkeit liegt im Nutzen für die Menschen, nicht im Haus selbst. Die Form, die ich den dabei bearbeiteten Materialien gebe, ist keine von ihnen selbst bewirkte Gestaltung. Anders beim Organismus: bei diesem erfolgt die Formentfaltung aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Der wahre Zweck wäre ein Allgemeines, „das sich aus seinen äußeren Relationen nur als es selbst wieder herstellt“ (Hoffmann 2004: 378).

„Im Organismus […] sind alle einzelnen Organe, Herz, Leber usw., Mittel zur Aufrechterhaltung seines Lebens; indem sie dies aber durch richtiges Funktionieren gewährleisten, sind sie zugleich auch der Zweck des Lebens des Gesamtorganismus, denn dieser besteht im richtigen Funktionieren aller Einzelteile.“ (Taylor 1998: 423)
Bei den äußerlichen endlichen Zwecken gibt es eine Abfolge einander abwechselnder endlicher Zwecke: Wir bauen Korn an, um Brot daraus herzustellen, und essen Brot, um zu leben… (Taylor 1998: 422). Das könnte ewig so weiter gehen. Es kommt aber bei vielen Prozessen darauf an, zu einer Perspektive überzugehen, bei der „das Ganze als zweckbestimmt gesehen wird“ (ebd.: 423).
„Die Tätigkeit des Menschen und der Lauf der Welt, der den Hintergrund dazu bildet und der sie beeinflußt, muß als ein großer Lebensablauf verstanden werden, der sich selbst formt.“ (Taylor 1998: 423)
Erinnern wir uns an die Ausgangsannahme: Es ist Vernunft in der Welt. Das bedeutet auch: Es gibt keine grundsätzliche Trennung zwischen handelnden Akteuren und der äußeren Welt, zwischen Mensch und Natur. Indem wir handeln, gestalten wir die Welt - gestaltet sich die Welt durch uns. Die Perspektive einer bewussten Weltgestaltung gibt uns die Sichtweise, bei das Ganze nicht nur von außen, vom Anderen beeinflusst wird, sondern sich die Veränderung als Selbstveränderung, durch eigene Kräfte hervorgebracht, zeigt. Bewusste Selbstgestaltung ist dann sowohl das Ziel, wie auch die Verwirklichung dieses Ziels. Im Unterschied zu einer Ursache erhält sich der Zweck in seiner Realisierung. In der Bewegung erhält sich das Ganze, die Allgemeinheit (das Ganze) und die Tätigkeit (Bewegung) fallen zusammen (HW 3: 202). Das, was geschehen muss (die Selbstschaffung des Allgemeinen), geschieht gleichzeitig schon immer (in der Realisierung des inneren Selbstzwecks).
„Wir können dann von einem Zweck sprechen, wenn ein Ziel aus irgendeinem Grund bereits vor seiner Erfüllung in Geschehnissen, die durch einen bestimmten Anlaß hervorgerufen werden, wirksam ist, so daß sie „um des Zieles willen“ sich ereignen.“ (Taylor 1998: 426)

Was hat dies nun mit der Vernunft zu tun? Vernunft verlangt eine vernünftige Struktur der Welt, „von der alle Aspekte eine Antwort auf die Frage „warum“ liefern und in der nichts als bloße „positive“ Tatsache gegeben ist“ (ebd.: 427). Nur die Betrachtung der Welt als Entfaltungsprozess eines innerlichen Zwecks ermöglicht dies. Dass der Zweck von innen kommt und nicht von außen auferlegt ist, bedeutet, dass die Notwendigkeit der Entfaltung des Zwecks nicht etwa Zwang ist, sondern Freiheit bedeutet.

Die Vernunft brauchen wir, um diesen inneren Zweck zu begreifen. Aus diesem heraus ergibt sich dann die Möglichkeit, das Existierende zu kritisieren, weil es diesen inneren Zweck immer nur in endlicher, mangelhafter Weise verwirklicht.

„Wer den Begriff der Pflanze, ihren Typus erkannt hat, der kennt ihre Natur und weiss, was die Natur mit ihr intendirte. Darum kann der Begriff als kritischer Maßstab dienen.“ (Erdmann 1864: 112)
Das jeweils Existierende als eine besondere Entwicklungsform des Ganzen enthält diesen inneren Zweck jedoch auch - dieser wird ihr nicht „von außen“ entgegengestellt. Jede Gesellschaftsform ist eine Form menschlicher Gesellschaftlichkeit - aber was Gesellschaftlichkeit bedeutet, ist in keiner dieser endlichen Form endgültig verwirklicht. Hegel spricht übrigens nicht in dieser Weise von „Gesellschaftlichkeit“, sondern bei ihm steht das Wort „Sittlichkeit“ für das, was ich mit der moderneren Bezeichnung auszudrücken versuche. Sittlichkeit ist bei Hegel z.B. „die Freiheit, die die Freiheit will; der Begriff des Willens, der zu seinem Zweck nur haben will die Befreiung“ (HR 7: 145). Sie verwirklicht sich in einer vernünftigen Organisierungsweise (die Hegel „Staat“ nennt), „worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist“ (HW 12: 55).

All diese Bestimmungen sind in der einen oder anderen Form, wie mangelhaft auch immer, in allen gesellschaftlichen Formen der Geschichte bereits gegeben. Jede konkrete historische Verwirklichung zeigt aber einen Mangel, insbesondere durch die in ihr auftretenden Widersprüche. Der Trend geht dann in Richtung der Aufhebung des Mangels, der Fortschritt verläuft -trotz aller Phasen von Stagnation oder Regression für weite Bereiche - entlang des „Bewusstseins der Freiheit“. Vernunft unterscheidet sich auch dadurch vom Verstand, dass der Verstand sich mit dem Denken oder dem Abbilden des Gegebenen zufrieden geben kann, während die Vernunft auf die Praxis zielt und „das zweckmäßige Tun ist“ (HW 3: 26).

Bei Hegel ist diese Entwicklung eingebunden in die Vorstellung das gesamte All verkörpere ein solches freiheitliches, vernünftiges Selbstbewusstsein. Auch wenn wir Hegels universalistische Weltsicht an dieser Stelle nicht teilen, also nicht annehmen, dass das gesamte Universum sich zweckmäßig entfaltet, dann sollten wir trotzdem darüber nachdenken, für welche Ganzheiten in unserer Realität diese Betrachtungsweise des Zwecks sinnvoll ist. Die Hinweise auf den Übergang von rein pragmatischen, endlichen und äußerlichen Zwecken hin zur innerlichen Zweckmäßigkeit können etwa bei ökologischen Überlegungen ausgesprochen hilfreich sein. Menschen sollten die Natur nicht nur nach endlichen Nützlichkeitserwägungen behandeln, sondern die tiefe Zweckmäßigkeit der planetaren ökologischen Zusammenhänge berücksichtigen, in die das menschliche Handeln eingreift.

Der Unterscheid von Verstand und Vernunft zeigt sich jetzt daran, dass das richtige Verstehen der Zusammenhänge uns ermöglicht, richtige Mittel für gegebene Zwecke zu finden (Pragmatismus). Vernunft ist jedoch vonnöten, wenn wir den Gesamtzusammenhang der Systemdynamik (Ökologische Zusammenhänge…) berücksichtigen wollen. Dann kommt es darauf an, die Zwecke wie auch die Mittel im Zusammenhang mit der übergreifenden Bewegungsdynamik zu untersuchen. Nicht alle Mittel und erst recht nicht alle Zwecke sind aus dieser Perspektive wirklich vernünftig.

Die zu Anfang gestellte Frage: „Ist alles, was wir verstehen, auch vernünftig?“ muss deshalb verneint werden.


 
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