3.2.2 Drei ErkenntnisschritteWir erinnern uns, dass beim verständigen Erkennen bzw. Denken Unterschiedliches voneinander geschieden wird und Abstraktionen stattfinden. Angemessene Differenzierungen und Abstraktionen sind aber nicht grundsätzlich falsch, sondern sie sind „ein notwendiges Moment des vernünftigen Denkens“ (HW 10: 286). Zur Vernunft kommt der Verstand aber erst, wenn die Abstraktion aufgegeben wird und die inneren und äußeren Differenzen der jeweiligen Bestimmungen inhaltlich konkret begriffen werden. Das Wort „begriffen“ verweist nicht zufällig auf die von Hegel besonders hervorgehobene „Begriffslogik“, die die höchste Stufe der Logik nach dem Durchlaufen der Seins- und Wesenslogik darstellt (vgl. Schlemm 2002 und Schlemm 2005: 133ff.).
Zeigen wir das an einem Beispiel:
Anders bei einem anderen Beispiel, dem Leben: Der einzelne lebende Organismus ist unmittelbar wahrnehmbar (1.). Wenn wir genauer über den Prozess des Lebens nachdenken, fällt uns auf, dass Leben im Gegensatz zum Tod steht: „Der lebendige Körper steht immer auf dem Sprunge, zum chemischen Prozess überzugehen: Sauerstoff, Wasser, Salz will immer hervortreten, wird aber immer wieder aufgehoben […].Das Lebendige begibt sich immer in Gefahr, hat immer ein Anderes an ihm, verträgt aber diesen Widerspruch, was das Anorganische nicht kann.“ (HW 9: 338). Lebendes wehrt sich gegen den Tod, der Tod ist das Ende des Lebens -beide Seiten negieren sich (2.). Erst wenn wir das Lebendige als Prozess der Aufeinanderfolge der Generationen begreifen, erweisen sich Leben und Tod als notwendige Bestandteile dieses Prozesses (3.). Während der Verstand auf je einer Seite des Gegensatzes stehen bleibt und zwar eine Beziehung zum Gegenüber sieht, aber nur eine negative und damit den Gegensatz festhält, begreift die Vernunft den übergreifenden Prozess, der beide Gegensätze erst hervorbringt. Die vorher als fest angenommenen Gegensätze sind „vielmehr an und für sich selbst das Übergehen“ (HW6: 560).
Wenn man sagt, Dialektik ist das Denken in Beziehungen und Zusammenhängen, so ist hier noch genauer zu unterscheiden. Wenn wir lediglich nacheinander von jeder Seite her, die als fest angenommen wird, das jeweils Andere betrachten, so können wir zwar den jeweiligen Zusammenhang zum Anderen verstehen. Aber wir können noch nicht den diese Hin- und Herbewegung konstituierenden gemeinsamen Prozess (vernünftig) begreifen. Es muss von einer äußeren Reflexivität noch der Schritt zur Selbstreflexivität gemacht werden.
Wenn wir etwas verstehen wollen, genügt es, es aus äußeren Ursachen abzuleiten (Entstehungsbedingungen, Umstände…). Das vernünftige Begreifen zielt jedoch auf die Erklärung aus sich selbst heraus ab, auf den inneren Zusammenhang, die inneren Struktur, aus der heraus sich die einzelnen Momente erklären. Jedes dieser Momente ist dann nicht nur äußerlich an das andere gebunden, sondern es ist selbst identisch mit seinem Gegenteil.
|