3.2 VernunftDer Verstand betrachtet miteinander wechselwirkende Phänomene noch als einander äußerlich und auch sich selbst als außerhalb der Phänomene. An dem Beispiel mit den Naturgesetzen wird folgendes deutlich: Wir sind es, die die entsprechenden Messgrößen bilden und sie für die Naturerkenntnis verwenden. Wenn wir unsere eigene wissenschaftliche Praxis begreifen wollen, müssen wir unsere eigene Aktivität mit berücksichtigen. Dann ist es nicht mehr ausreichend, getrennt über „die Natur da draußen“ und „uns“ zu sprechen.
Wissenschaft sagt nicht nur etwas aus über die Welt da draußen, sondern sie ist unser Bemühen, ihre Veränderbarkeit durch uns zu erforschen. Wissenschaft wird jetzt bestimmt als „objektive Erforschung der Veränderbarkeit der Welt durch uns“ (leicht verändert nach Laitko 1979: 84, vgl. Schlemm 2005: 218).
Was hat sich seit der Betrachtung des Verstandes verändert? Es ist eine zusätzliche Reflexionsstufe hinzugekommen: Wir schauen nicht nur auf die Natur, sondern wir schauen auf die Natur und sind uns dabei bewusst, dass wir es sind, die es auf ganz spezifische Weise tun. In der Gesellschaftstheorie würden dementsprechend die eigenen spezifischen Erkenntnisinteressen (die mit dem, was wir untersuchen, nämlich der Verfasstheit der Gesellschaft, zusammenhängen) mit thematisiert.
Nicht ganz zufällig haben jene Philosophien, die den zusätzlichen Reflexionsschritt vollziehen, die also die wirkliche Praxis der menschlichen Erkenntnis mit reflektieren, den Anschein eines „Idealismus“ in dem Sinne, dass sie die „Welt da draußen“ nicht unabhängig von unserer Erkenntnispraxis thematisieren.
Das ich diese Betrachtung nicht als individuelles Wesen vollziehe, sondern als Teil der menschlichen Gattung, wird übrigens bei später im Begriff des „Geistes“ weiter behandelt.
Warum bietet die Vernunft den Ausgleich? Mit Vernunft begreife ich, dass die vorher unterschiedenen Komponenten (z.B. die Messgrößen, die Unterscheidung von Akteurs- und Systemsicht) aus einer einzigen Quelle herrühren, sie entstammen nämlich meinem Erkenntnisprozess der Welt. Es sind Menschen, die die Messgrößen verwenden in ihrer wissenschaftlichen Praxis (die Größe Masse wurde erstmals von Galilei genauer bestimmt), insofern hat die konstruktivistische Wissenschaftstheorie auch ihre Berechtigung. Aber wir bilden die Größen ja gerade so, dass wir Bewegungen in der realen Welt damit richtig (reproduzierbar, objektiv, praktisch nutzbar…) abbilden können - dies ist der Anteil des Materialismus/Realismus. In der Vernunft stellt sich das Unterschiedene nicht mehr als Getrennte, Isoliertes und nur äußerlich aufeinander Einwirkendes vor, sondern: wir begreifen, dass die unterschiedenen Momente letztlich Momente einer Einheit sind - entweder einer ontologischen Einheit („in der Welt da draußen“) oder unseres Erkenntnisprozesses.
Die räumliche Bewegung „in der Welt da draußen“ ist gekennzeichnet vom Widerspruch, dass ein Objekt gleichzeitig an einem Ort ist und schon nicht mehr an diesem Ort ist. Das wird häufig auch „objektiver Widerspruch“ genannt und im Gegensatz gegen die „idealistische Weltanschauung“ als „materialistische Weltsicht“ betont. Hegel ist insofern „Idealist“, als er die Eigenständigkeit der objektiven Welt durchaus anerkennt, aber in seiner Philosophie über „unsere Erkenntnis der Welt“ spricht, denn wir kennen die Welt nur in unserer Praxis und durch unsere Praxis, die durch eine vollständige Erkenntnis deshalb immer mit reflektiert werden muss.
Immer dann, wenn die verschiedenen Momente nicht mehr als Gegebenes hingenommen und durch jeweils äußere Ursachen bedingt werden, sondern wenn das übergeordnete Ganze als Grund der Entfaltung der Momente begriffen wird, ist die Vernunft am Werke und nicht mehr der Verstand. Die beiden oben genannten Praxismomente, nämlich einerseits das durch bestimmte Bedingungen erzeugte, also das Existierende als Gegebenes zu erkennen (das Gegebene annehmende, stoische Moment) und andererseits als Subjekte selbst Zwecke setzen zu können (das das Gegebene in Frage stellende, skeptische Moment) bilden im wirklichen praktischen Handeln eine Einheit. Wir wären nicht wirkmächtig, würden wir nicht auf die tatsächlich existierenden Gegebenheiten einwirken können und wir wären nicht als Subjekte tätig, wenn wir keine eigenen Zwecke realisieren würden. Vernunft begreift die Welt als eine, die von uns in ihren Gegebenheiten erkannt und verändert werden kann, sie entkommt den Sackgassen des Stoizismus und des Skeptizismus, also der Verabsolutierung ihrer verständigen Momente.
Gegen jede Verselbständigung von mir und der Welt bzw. von Denken und Wirklichkeit ist Vernunft nun das, was jeweils die Einheit bildet und aus dem heraus sich die Unterschiede erst setzen.
Der Übergang vom Verstand zur Vernunft nimmt auch die Kritik von Adorno gegen das (abstrakt-)Identische vorweg. Die Individualität ist etwas, das Allgemeinheit und Einzelheit nicht nur äußerlich zusammen bringt (wie das Urteil), sondern in der die unterschiedlichen Momente jeweils auch das andere sind:
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