Schülerstreik in Storkow,
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"Zu Kaisers Zeiten gab es in Deutschland etwa 30 000 Autos (PKW). Im heutigen Deutschland gibt es etwa 30 Millionen Autos (PKW). Also etwa tausend Mal so viele wie beim Kaiser. Da hat sich viel verändert.
... Zu Kaisers Zeiten wurden in eine Schulklasse etwa 30 Schüler gestopft. Auch im heutigen Deutschland sind die Schulklassen mit circa dreißig Schülern bestückt, mal weniger, mal mehr. Da hat sich nichts verändert. Nichts." "Ihr behauptet, in die Infrastruktur der neuen Bundesländer müssten noch 300 Milliarden investiert werden. Mag sein. Aber das Schulsystem zählt ihr nicht zur Infrastruktur. Und da behauptet ihr, etwas von Wirtschaft und Menschenwürde zu verstehen? "
Der Anlaß: Die Schulrätin verfügt: In Storkow gibt es nicht zwei elfte Klassen. Es gibt auch nicht eine elfte Klasse. Es gibt überhaupt keine elfte Klasse in Storkow. "Ab Morgen gehen Sie in Beeskow oder Fürstenwalde oder anderswo zur Schule. Verlassen Sie sofort das Haus." Nach zehn Minuten ist alles erledigt. Die beiden Klassenräume sind leergefegt, die Schüler weggeblasen. Wie anno '56 bei der SED, worüber wir noch sprechen werden." "Der Liedermacher und Storkow-Bürger Kurt Demmler macht Musik und Text zu einem Hip-Hop. Die dritte von fünf Strophen lautet:
Remember, remember,
Danach verlängert sich die tägliche Fahrzeit für die Abiturwilligen erheblich: "Die Schüler aller Klassen sind ratlos. Es gibt aufgeregte Gespräche. Im Raum steht allgemeinste, aber blinde Weisheit: Es hilft uns nur Protest. Als Scherz wird auch das Wort gebraucht: "Wir müßten streiken." Doch was heißt hier Streik?" "Täglich vierzig mal neunzig Minuten Leben müssen gerettet werden, für Bildung statt für Gerangel im Omnibus und Diesel-Abgas. Frei nach Goethe: Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen. Und nur noch Streik kann Lebenszeit gewinnen. " Streik heißt: Wir organisieren Unterricht selber. Start des alternativen Unterrichts:"Gegen 10 Uhr beginnt der Alternativ-Unterricht. Alle ehrenamtlichen Lehrer - Schüler der oberen Klassen, bald auch Studenten und Gewerbetreibende aus Storkow, sie alle beginnen ohne Vorbereitung mit der ungewohnten Arbeit. Gleichaltrige Schüler sollen zu Klassen zusammengefasst sein." "Schüler sprechen miteinander über Bücher. Sie suchen auch Bücher bekannt zu machen, die ihnen oder ihren Eltern viel bedeutet haben. Ein Siebtklässler wird vom Streikkomitee zur Storkower Stadtbibliothek geschickt. Er ist mit Erlaubnis zum Verlassen der Schule ausgestattet und soll das Buch "Sterntagebücher" von Stanislaw Lem besorgen. Hunderttausende Menschen im Osten Deutschlands waren begeisterte Leser von Lem. Der Vater hatte das Buch einst in der Stadtbibliothek ausgeliehen. Doch siehe - das Buch ist während der Wende ausgesondert worden, obwohl der Pole Lem ein Weltbürger und kein Kommunist gewesen ist. Er hatte nur das Pech, in Leipzig verlegt worden zu sein. "
"Dann 1956. Da gab es in Storkow in der Abiturstufe zwanzig Schüler. Das war der armen DDR nicht zu teuer. Selbst 1958 gab es noch einmal eine Abiturstufe in Storkow. Doch wie die MOZ erinnert, auch der ORB, und viele Storkower wissen es, passierte 1956 etwas ganz anderes: Die Mehrheit der Schüler verhielt sich politisch mißliebig. Sie hatten im Westsender gehört, in Ungarn sei der berühmte Nationalspieler Ferencs Puskasz - Mittelstürmer der Fußball-Weltmeister-Mannschaft - beim Aufstand ums Leben gekommen. Was sich später als Ente erwies.
"Ich steh am Rande neben Oehring. Das Mikro wird zu mir gereicht. So spreche ich ins Mikrofon: "Ich wohne in Bugk bei Storkow. Meine Enkel gehen in Berlin, in Dresden, in Flensburg zur Schule. Schon jetzt sind in Berlin die Klassen überfüllt, und trotzdem fällt viel Unterricht aus. Auch in Dresden. Was euch angetan wird, das kann in Berlin, in Sachsen und im Norden ähnlich geschehen. Das bahnt sich dort schon an. Ihr Storkower streitet auch für meine fünf Enkel. Deshalb bin ich bei Euch!"
"Nun zählen Storkower Schüler zu den ersten in Deutschland, die sich auf den Weg begeben, zu praktizieren, was Schülern zukommt. Und was Hochschulen pflegen müßten. Schüler aller Bundesländer, vernetzt euch. Reißt Politikern eure Zukunft aus den Händen, die sie wie eine Zitrone quetschen." |