Ontologische und onto-epistemische
Raum-Zeit-Auffassungen

Grundpositionen aus der marxistischen Dialektik
Ontologische Konzeption
Onto-epistemische Konzeption
Verhältnis der beiden Konzeptionen
Dialektik von Raumzeit und Materie

Literatur

Grundpositionen aus der marxistischen Dialektik

Raum und Zeit werden als Existenzformen der Materie verstanden. Betont wird dabei die Verbindung von Materie und Raumzeit. Raum und Zeit werden als abhängig von den materiellen Prozessen gesehen. Dabei gilt wie immer die Unterscheidung von Materialismus und Idealismus: "Während der Materialismus die Existenz von Raum und Zeit außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein betonte, betrachtete der Idealismus Raum und Zeit als durch den Menschen in die Wirklichkeit hineingetragene Formen, die allein durch seinen Wahrnehmungsapparat bestimmt sind." (Einführung: 136). Als dialektisch materialistischer Standpunkt gilt: "Unsere Raum- und Zeitvorstellungen sind nicht subjektiver Art, sondern Widerspiegelungen der objektiven räumlichen und zeitlichen Beziehungen." (ebd.: 137)

Dieser Standpunkt grenzt sich einerseits ab gegen den mechanischen Materialismus, andererseits gegen die als Idealismus verstandene Konzeption von Kant. Den mechanischen Materialismus kennzeichnet demnach die "mechanische Trennung der Materie von Raum und Zeit", die von vielen Physikern vertreten würde. Kant dagegen "berücksichtigte [...] die Existenz objektiver raum-zeitlicher Beziehungen nicht" (ebd.).
In beiden Konzepten werden Raumzeit und Materie zu stark getrennt: Einmal werden Raum und Zeit unabhängig von der sich bewegenden Materie absolut gesetzt, das andere Mal werden raumzeitliche Anschauungsformen nur im Subjekt und nicht der zu untersuchenden Materie selbst angenommen.[1][2]
Der dialektische Materialismus versucht die spezifische Einheit von Raumzeit und Materie zu erfassen. Hierfür wurden - speziell in der DDR - zwei unterschiedliche Konzepte entwickelt. Die eine wurde als die offizielle Lehrmeinung verbreitet, die andere zumindest seit Beginn der 80er Jahre kaum öffentlich diskutiert.

Ontologische Konzeption

Beginnen wir mit der ersten Konzeption: Hier wird die Einheit von Materie und Raumzeit ontologisch vorausgesetzt. Alles in der Welt ist letztlich "Materie", als "objektive Realität, die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existiert" (Philosophisches Wörterbuch: 769) und diese Materie "kann sich nicht anders bewegen als im Raume und in der Zeit" (Lenin MuE: 171). Die Welt wird aufgefasst als das Ganze der sich in Raum und Zeit bewegenden verschiedenen konkreten Materieformen. Raum und Zeit werden verstanden als nicht von ihr trennbare "Existenzform" der Materie, deren konkrete Eigenschaften von den Eigenschaften der jeweiligen Materieform abhängen. Das zeigt sich schon in unterschiedlichen raumzeitlichen Strukturen für verschiedene Bewegungsformen der Materie (physikalische, biologische ...) und auch innerhalb der Physik für unterschiedliche physikalische Theorien, die verschiedene physische Strukturniveaus der Materie beschreiben. Da in der Quantentheorie keine kontinuierliche Bahnkurve für Bewegungen mehr definiert werden kann, existiert hier ein anderer Bezug auf die allgemeine Raumzeit: Alle physikalischen Experimente in diesem Bereich müssen letztlich auf makroskopische, also auch raumzeitliche Zustände bezogen werden ("Messproblem"), deshalb sind "die geometrischen Strukturen von Raum und Zeit [...] notwendige Bedingungen für jede mögliche mikrophysikalische Erkenntnis" (Philosophisches Wörterbuch: 1015). Obwohl hier der epistemologische Aspekt der Unterscheidung von Raumzeit und Materie genannt wird, ist mit der Raumzeit, auf die sich auch die mikrophysikalische Erkenntnis bezieht, die Raumzeit als Existenzform der makroskopischen Materieformen gemeint und es ist keine epistemologische Raumzeitbestimmung wie bei Kant vorgesehen. Der Fortschritt der Allgemeinen Relativitätstheorie wird vor allem darin gesehen, dass ein Teil der Raumzeit seine Unabhängigkeit von der (physikalischen) Materie verliert und eswird als Ziel der weiteren Erkenntnis angesehen, diese Restunabhängigkeit auch noch aufzuheben (vgl. Hörz 1971: 278), um die Einheit von Materie und Raumzeit auch einzelwissenschaftlich zu zeigen. Interessant ist die Darstellung von Hörz zum Vakuum, das er als einen Bereich des materiellen Raums versteht, in dem sich auch materielle Veränderungen vollziehen, die wir jedoch noch nicht kennen bzw. als unwesentlich vernachlässigen (ebd.: 282).

Hörz versteht unter Raum letztlich eine objektiv-reale "Struktur der materiellen Prozesse, wobei unter bestimmten Bedingungen Entfernungen, Bereiche und Bahnkurven bestimmt werden können." (ebd.: 296, vgl. auch 327).[3] Allerdings ist er sich nicht ganz sicher, ob die Raumstruktur der "Rahmen für den Ablauf der materiellen Prozesse" (ebd.: 298) ist, oder "vielleicht sogar identisch mit ihnen ist." (ebd.: 297) Einige Seiten weiter nennt er noch eine weitere Variante: den Raum "als Gesamtheit struktureller Beziehungen" zu verstehen (ebd.: 301)[4], während er einige Jahre vorher die Raum-Zeit lediglich als "Teil der Struktur eines Systems [...] das sich durch seine inneren Beziehungen zwischen den Elementen von anderen Systemen relativ isolieren läßt" (Hörz 1966: 312) bestimmt hatte. Fritz Gehlhar, der die Debatten zum Verhältnis von Raum, Zeit und Materie bis 1975 zusammenfasst, bestimmt Raum und Zeit schließlich als "wesentliche Eigenschaften oder Aspekte des Strukturgefüges aller materiellen Erscheinungen" (Gehlhar 1975: 910). Die Ontologie dieser Auffassung zeigt sich daran, dass eine "objektive Raumzeit" vorausgesetzt wird, deren vollständige Erkenntnis das Erreichen einer absoluten Wahrheit bedeuten würde. Davon unterschieden wird der Erkenntnisprozess, der sich dieser Wahrheit nur in einem unendlichen Prozess immer mehr annähert und in dem "relative Wahrheiten" erkannt werden. Die Verbindung zwischen dem Objektiven (objektive Raumzeit) und unseren Erkenntnisresultaten (Raum-Zeit-Theorien) wird in unserer Erkenntnistätigkeit realisiert, wobei diese als Widerspiegelung verstanden wird. Das Widerspiegelungskonzept ist nicht misszuverstehen als passives Abbilden, sondern es versucht auch die Aktivität des Erkenntnissubjekts zu erfassen (beispielsweise als Einheit von "Repräsentanz und Konstruktion" bei Hörz 2006: 167). Die Raumvorstellungen sind demnach derartige Widerspiegelungen des objektiven Raums und "die Entwicklung unserer Raumvorstellungen [stellt] ein tieferes Eindringen in die objektiven Raumstrukturen dar." (Hörz 1971: 297)

Ein Beispiel für eine ontologische Sichtweise ist auch die Interpretation der Entwicklung der Physik durch Hermann Weyl. Es geht um die Unterscheidung von "natürlicher", "freier" Bewegung, die nicht durch Kräfte erklärt werden muss und jene, die durch Kräfte erklärt wird. Bei Demokrit wird unterschieden die geradlinige Fallbewegung nach unten als die "natürlich-freie" und die davon abweichende als kraftverursachte. Bei Galilei und Newton ist als freie Bewegung die gleichförmig-geradlinige Bewegung (die Trägheitsbewegung) das "Etalon", an dem Kräfte angreifen und Beschleunigungen hervorrufen. Bewegung wird nach Weyl verstanden als "Kampf zweier Tendenzen, Trägheit und Kraft." (Weyl 1924a: 479f.). Weyl führt hier schon den Begriff "Führungsfeld" ein: "Das Galileische Trägheitsgesetz zeigt, daß in der Welt eine Art zwangsweise Führung vorhanden ist, welche einem Körper, der in bestimmter Weltrichtung losgelassen ist, eine ganz bestimmte natürliche Bewegung aufnötigt, aus der er nur durch äußere Kräfte herausgeworfen werden kann..." (Weyl 1921: 237) Dieses Führungsfeld betrachtet Weyl als "reale Ursache" der Trägheitskräfte (ebd.: 240).

Einsteins allgemeine Relativitätstheorie nimmt die Gravitation, die vorher als Kraft verstanden wurde, in die Trägheitsbewegung mit hinein (die Bewegung auf der Geodäte im gekrümmten Raum wird als kräftefreie angesehen). Es bleibt die Scheidung, d.h. der Dualismus zwischen kräftefreier und kraftverursachter Bewegung. Die kraftverursachte Bewegung, die die "dynamische" genannt wird, wird in den Grundgesetzen der Theorie beschrieben, und die kräftefreie Bewegung ist der Ausgangspunkt (relativer Ruhezustand), gegen den die Dynamik (kraftverursachte Bewegung) überhaupt erst bestimmt werden kann. Welche kräftefreie Bewegung möglich ist, ist in der Raumzeit-Struktur bestimmt. Um zu verdeutlichen, dass diese Struktur ontisch wirksam ist, werden auch die Begriffe Äther und Führungsfeld verwendet. Die Äthervorstellung dient, wie Weyl beschreibt, gerade der Möglichkeit objektiver Unterscheidung zwischen Ruhe und Bewegung eines Körpers (Weyl 1924b: 487). Der Ruhezustand wird als homogene Grundlage aufgefasst, die durch Kräfte "erregt" werden kann (Weyl 1924a: 484). In diesem Sinne wird er auch "Führungsfeld" genannt:

"Und in den Gravitationserscheinungen, so erkannte Einstein wieder, verrät sich des "Führungsfeldes" Veränderlichkeit und Abhängigkeit von der Materie. An dem Dualismus von Führung und Kraft wird also festgehalten; aber die Führung ist ein physikalisches Zustandsfeld (wie das elektromagnetische), das mit der Materie in Wechselwirkung steht." (Weyl 1924a: 479f.) In dieser Betrachtung werden Äther wie auch Führungsfeld als reale physikalische Objekte betrachtet. Da die Bestrebungen in der Physik darauf hinlaufen, zu immer grundlegenderen, tieferen Einheiten in den verschiedensten Erscheinungen vorzudringen, gehen die Bemühungen dahin, nun auch noch den letzten Dualismus von "Führungsfeld" und Materie (Teilchen) zu beseitigen, z.B. in Form verallgemeinerter Feldtheorien (Weyl 1924b: 503; Einstein 1954: 101f. ).

Onto-epistemische Konzeption

Die oben genannte abweichende Konzeption geht nicht von einer Ontologie der Materie "an sich" aus, sondern von der menschlichen Praxis, der Arbeit und betrachtet die Wissenschaft als eine spezielle Form von Arbeit (Ruben 1978, Laitko 1979).[5] Dabei wird darauf verzichtet, Aussagen über die "objektive Realität", wie sie ohne unsere Erkenntnis wäre (die Welt "an sich"), zu machen, sondern diese wird immer als Gegenstand unserer Erkenntnis bestimmt. D.h. diese Konzeption meidet ontologische Aussagen - sie ist onto-epistemisch verfasst. Die Einheit von materiellem Gegenstand und Raumzeitvorstellungen wird hier nicht in der (ontologischen) "objektiven Existenzform" der Materie gesehen, sondern in einem Teilmoment dieser materiellen Zusammenhänge, dem wissenschaftlichen Arbeitsprozess. Arbeit wird verstanden als gegenständliche Tätigkeit, als werkzeugvermittelten Gattungsprozess, als gegenständlich vermitteltes Gegeneinander von Subjekt und Objekt. (Ruben, Warnke 1979)

In der wissenschaftlichen Arbeit steht das Erkenntnissubjekt seinem Objekt nicht unvermittelt gegenüber, sondern es entwickelt Erkenntnismittel, die es ihm ermöglichen, jeweils besondere Verhaltensweisen der Naturgegenstände zu untersuchen. Dabei werden beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen der Naturgegenstände (z.B. das Ausüben eines Widerstands gegenüber Bewegungsänderungen von trägen Körpern) als physikalische Zustandsgröße (physikalische Masse) verdinglicht. Solch eine Zustandsgröße bekommt einen Doppelcharakter: Sie ist etwas von Menschen Konstituiertes (als Erkenntnismittel) und gleichzeitig vom realen Objekt Abgeleitetes, nichts lediglich willkürlich Erfundenes. Im Erkenntnismittel vereinigt sich die Aktivität des Subjekts (das entscheidet, welche Verhaltensweise es untersucht) und des Objekts (dessen reales Verhalten der Gegenstand der Untersuchung ist).[6]

Nicht nur die Entwicklung von Zustandsgrößen ist solch eine Form wissenschaftlicher Arbeit, sondern auch die Unterscheidung von Teilchen und Feld, von Grundgleichungen und Randbedingungen, von bewegten Körpern und Raumzeit. Diese Unterscheidungen, die Momente von wirklichen Widersprüchen auseinander nehmen und trennen, nennen Wahsner und Borzeszkowski "Dualismen". Dualismus ist hier die "Bezeichnung der spezifischen Fassung oder spezifischen Erscheinung des (dialektischen) Widerspruchs in der Physik, also in einer empirischen mathematischen Wissenschaft." (von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 8) Er zeigt sich darin, "daß meßtheoretische Bestimmungen sowohl der Dynamik vorausgesetzt als auch an sie angeschossen werden müssen." (von Borzeszkowski, Wahsner 1982: 174) Die getrennten Momente der konkret-widersprüchlichen Bewegung werden gerade in der Messung wieder auf eine spezifische Weise aufeinander bezogen.

Der Unterscheidung von Raumzeit und sich bewegender Materie in der genannten atomistischen Weise widerspricht Herbert Hörz durch den Hinweis auf die gegenseitige Durchdringung der kleinsten bis dahin bekannten Materiearten: der Elementarteilchen. Wenn als Bewegung jegliche Veränderung, nicht nur die Ortsveränderung gesehen wird, ist es deshalb nach Hörz ein materiefreien Raum als Bedingung der Bewegung nicht mehr notwendig (Hörz 1971: 281; vgl. auch schon Weyl 1924b: 504). Tatsächlich ist für Quantenobjekte kein raumzeitlicher "Hintergrund" mehr sinnvoll - hier muss zwischen dem makroskopischem Beobachtungs(bzw. Mess)raum und dem (mathematisch abstrakten Hilbert-)Darstellungsraum deutlicher unterschieden werden (vgl. Röseberg 1984: 215). In der Quantentheorie zeigt sich der Dualismus nicht in einer Unterscheidung von Raumzeit und Materie, dafür aber in der gleichzeitigen Verwendung kanonisch konjugierter Größen, d.h. jener Größen, für die das Komplementaritätsprinzip gilt. Gerade in der Quantentheorie zeigt es sich, dass "die Physik eines Erkenntnismittels bedarf" (von Borzeszkowski, Wahsner 1986: 1098). Für die Elementarteilchen- bzw. aktuellere Theorien wären die aktiven bzw. die passiven Prinzipien (Frage der Symmetrien...) noch zu bestimmen. Aus dieser Sicht erweist sich die den dynamischen Bewegungsgesetzen in der Theorie vorausgesetzte Raum-Zeit-Struktur als Erkenntnismittel. (Wahsner, Borzeszkowski 1992: 269). Das betrifft die Anteile der Geometrie, die durch Messgründe bedingt sind. Dabei muss die vorausgesetzte Raumstruktur geeignet sein, die Reproduzierbarkeit der Prozesse zu erreichen (ebd.: 245). Die Raum-Zeit-Struktur in der Physik ist also demnach ein Erkenntnismittel und ihm werden vor jeder Dynamik (Bewegungsgleichung) Eigenschaften zugeschrieben, durch die die Messung und damit die Physik als empirische Wissenschaft überhaupt erst möglich wird (von Borzeszkowski, Wahsner 1991: 184). Diese Voraussetzung hat viel gemein mit Kants "a priori" (vor der Erfahrung); diese sind aber nicht ein für alle mal gegeben, sondern gilt jeweils bezüglich bestimmter Theorien. "Die Dynamik bestimmt mit, wie Raum und Zeit der betreffenden Theorie beschaffen sein müssen." (Wahsner 1996: 77-78). Die Apriori sind relativ gegenüber den Theorien, für die sie gelten. Die Relativität stützt aber keine relativistische Sichtweise; es ist gerade nicht beliebig, welche Raumzeitstrukturen einer Theorie voraus gesetzt werden, sondern diese hängen von den wirklichen Verhaltensweisen der objektiven Naturgegenstände im Gegenstandsbereich der entsprechenden Theorie ab.

Verhältnis der beiden Konzeptionen

Wenn man beide Konzeptionen zusammen bringen will, lässt sich das ohne einen Verzicht auf die materialistische Grundhaltung leisten. Wenn die Aussage der ontologischen Konzeption, dass wir niemals zur "absoluten Wahrheit" gelangen, sondern nur relative Wahrheiten erreichen können, ernst genommen wird, entspricht sie der onto-epistemischen Grundlage, dass wir die Welt nie "an sich" erkennen, sondern immer nur im Zusammenhang mit den verwendeten Erkenntnismitteln. Ulrich Röseberg formuliert dies explizit für die Quantentheorie: "In der Quantenmechanik müssen den ontologischen Aussagen für bestimmte Konzepte und Größen die jeweiligen erkenntnistheoretischen Bedingungen hinzugefügt werden." (Röseberg 1994: 131) Es ist nicht einzusehen, warum diese Aussage nur für die Quantenmechanik gelten soll. Während die onto-epistemische Sicht vor allem die Bedeutung der Erkenntnismittel heraus arbeitet, betont die ontologische Sicht, dass bei aller Relativität ein Erkenntnisfortschritt in Richtung der "absoluten Wahrheit", das heißt ein immer tieferes Eindringen in natürliche Zusammenhänge und Wechselwirkungen erfolgt: "Der Mensch kann als Erkenntnissubjekt nur in der gegenständlichen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisobjekt erkennen; gleichzeitig ist seine Erkenntnistätigkeit auf Erkenntnis objektiver, von dieser Tätigkeit unabhängiger gesetzmäßiger Beziehungen gerichtet."[7] (Röseberg 1984: 207)

Der Dualismus von Dynamik und ihren (a priori) Voraussetzungen enthält also in sich noch einmal den Dualismus innerhalb der Voraussetzungen: Immer mehr Teile dieser Voraussetzungen werden nach und nach zum Gegenstand der dynamischen Theorie (wie die Raummetrik, die in der allgemeinen Relativitätstheorie in die Grundgleichungen eingeht, weil sie als Gravitationspotential erkannt wurden) und damit werden Fortschritte im (ontologischen) Einheitsstreben realisiert. Gerade dieses immer tiefere Eindringen in immer komplexere Formen der Materie erfordert jedoch auch immer diffizilere Erkenntnismittel, die als eventuell neue oder restliche Apriori den erkennenden (praktisch-gegenständlichen) Zugriff der Menschen auf die Wirklichkeit ermöglichen (Messtheorien...).

Dialektik von Raumzeit und Materie

Die Dialektik von Raumzeit und Materie wird in der ersten Konzeption einerseits in ihrer Einheit gesehen, andererseits in der inneren Widersprüchlichkeit der Raumzeit selbst in ihren Formen: Widerspruch von Endlichem und Unendlichem, von Kontinuität und Diskontinuität. Wenn wir Dialektik nach Hegel als "Identität der Identität und Nichtidentität" (Hegel Diff.: 96) verstehen, brauchen wir für eine dialektische Betrachtung nicht nur irgendeine Einheit und irgendeine Widersprüchlichkeit, sondern eine Einheit von gegensätzlichen Momenten, die in sich selbst widersprüchlich sind. Das bedeutet für Raumzeit und Materie, dass Raumzeit und Materie gegensätzlich sind, aber gerade in dieser Widersprüchlichkeit eine Einheit bilden und dass Raumzeit und Materie selbst in sich einheitlich und widersprüchlich sind. In den Ausführungen zur ersten (ontologischen) Konzeption haben wir die Einheit von Raumzeit und Materie und die innere Widersprüchlichkeit der Raumzeit genannt.

Ein vollständiger dialektischer Zyklus kann folgendermaßen entwickelt werden: Wir gehen von der abstrakten Einheit von Raumzeit und Materie aus, die sich darin zeigt, dass die Raumzeit die Bedingung der Möglichkeit für die materielle Bewegung ist. Dabei erweist sich die Raumzeit selbst als Einheit gegensätzlicher Momente, beispielsweise von Diskretheit (Zuschreibung von bestimmten Orten) und Kontinuität (Betrachtung von Grenzübergängen). Auch das Gegenmoment, die sich bewegende Materie, ist ein Widerspruch in sich: Einerseits liegen voneinander isolierte Materiebereiche (z.B. Körper) vor (deren Bewegung gegenüber der Raumzeit gerade betrachtet wird), andererseits wirken auf sie bewegende Kräfte, die scheinbar "von außerhalb" kommen. All diese Momente sind Gegenstände der Einzelwissenschaften, die über deren Herkunft und Begründung vor allem in Phasen der Entwicklung neuer Theorien reflektieren, sie später aber tendenziell als gegeben und nicht mehr hinterfragbar annehmen. Auch die genannte ontologische Konzeption bleibt beim Konstatieren der Vielfalt dieser Momente und der Behauptung ihrer "dialektischen Einheit" eher stehen. Diese bisher nur behauptete Einheit findet ihre Begründung "in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis" (Marx TüF: 7) und damit kommen wir zur onto-epistemischen Konzeption. Hier erschließt sich die Unterscheidung der Momente aus der Notwendigkeit, im Erkenntnisprozess Abstraktionen und Idealisierungen vorzunehmen, da die wirkliche Bewegung in sich widersprüchlich ist und als solche nicht vollständig einzelwissenschaftlich erkannt werden kann.

Die Raumzeit erweist sich aus dieser Sicht als Erkenntnismittel, insofern es die Erkenntnis von Bewegung gegenüber nicht in gleicher Weise bewegten "Etalons" ermöglicht, und als Erkenntnisobjekt, insofern es die objektiven strukturellen Bewegungsmöglichkeiten der Bewegungsformen der Materie erfasst.

Literatur:

Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus. Berlin: Dietz-Verlag 1977.

Einstein, Albert (1954): Relativität und Raumproblem. Anhang 5 in: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. Braunschweig: Vieweg & Sohn. (17. Auflage 1954). S. 85-102.

Gehlhar, Fritz (1975): Raum und Zeit als Existenzform der Materie. DZfPh 23 (1975) 7, S. 898-912.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Diff): Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie Werke. In: G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Enz.I): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.1986.

Hörz, Herbert (1966): Zur dialektischen Beziehung zwischen Inhalt und Form. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3/1966.

Hörz, Herbert (1971): Materiestruktur. Dialektischer Materialismus und Elementarteilchenphysik. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.

Hörz, Herbert (2006): Dialektik als Heuristik. In: "Erwägen Wissen Ethik" Jg.17/2006, Heft 2. S. 167 - 176.

Kanitscheider, Bernulf (1991): Kosmologie. Stuttgart: Philipp Reclam jun.

Kant, Immanuel (KrV): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Orig.-ausg. Hrsg. von Raymund Schmidt. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1993.

Laitko, Hubert (1979): Wissenschaft als allgemeine Arbeit Zur begrifflichen Grundlegung der Wissenschaftswissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag.

Lenin, Wladimir I. (MuE): Materialismus und Empiriokritizismus. Werke Band 14.

Marx, Karl (TüF): Thesen über Feuerbach (1845). In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke Band 3, Berlin: Dietz-Verlag 1990.

Philosophisches Wörterbuch. Hrsg.: Georg Klaus, Manfred Buhr. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut. 1976

Röseberg, Ulrich (1984): Szenarium einer Revolution. Nichtrelativistische Quantenmechanik und philosophische Widerspruchsproblematik. Berlin: Akademieverlag.

Röseberg, Ulrich (1994): Zum Erkenntnisproblem in der Physik des 20. Jahrhunderts. In: Konstruktion und Realität. Wissenschaftsphilosophische Studien. (Hrsg.: Hans Jörg Sandkühler). Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften. S. 119-147.

Ruben, Peter (1978): Wissenschaft als allgemeine Arbeit. Über Grundfragen der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsauffassung. In: Ruben, Peter: Dialektik und Arbeit der Philosophie. Köln: Pahl-Rugenstein. S. 9-51.

Ruben, Peter; Warnke, Camilla (1979): Telosrealisation oder Selbsterzeugung der menschlichen Gattung. DZfPh 27 (1979), S. 20-30.

von Borzeszkowski, Horst-Heino; Wahsner, Renate (1981): Die Wirklichkeit der Physik. In: DIALEKTIK 1991/1, S. 179-190.

von Borzeszkowski, Horst-Heino; Wahsner, Renate (1986): Physikalisches Erkenntnismittel und physikalische Realität. Zur Diskussion zwischen Niels Bohr und Albert Einstein um den Status der Quantenmechanik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 34 (1986), S. 1098-1106.

von Borzeszkowski, Horst-Heino; Wahsner, Renate (1991): Die Wirklichkeit der Physik. In: DIALEKTIK 1991/1. S. 179-190.

Wahsner, Renate; von Borzeszkowski, Horst-Heino (1992): Die Wirklichkeit der Physik. Studien zur Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft. Frankfurt am Main u.a./ Peter Lang.

Wahsner, Renate (1996): Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. In: HEGELIANA. Band 7. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang.

Weyl, Hermann (1921): Feld und Materie. In: Hermann Weyl: Gesammelte Abhandlungen Band 2. Berlin: Springer Verlag. 1980. S. 237-259.

Weyl, Hermann (1924a): Massenträgheit und Kosmos. Ein Dialog. In: Hermann Weyl: Gesammelte Abhandlungen Band 2. Berlin: Springer Verlag. 1980. S. 479-485.

Weyl, Hermann (1924b): Was ist Materie? In: Hermann Weyl: Gesammelte Abhandlungen Band 2. Berlin: Springer Verlag. 1980. S. 485-510

Fußnoten:

[1] Kant ist durchaus nicht so einseitig. Er verbindet den Gedanken, dass uns die räumliche Anschauungsform vor der Erfahrung gegeben sein muss, damit, dass diese Form tatsächlich auch "Prinzipien der Verhältnisse" der Gegenstände selbst enthalten muss (Kant KrV: 70). Er betont aber, dass uns solche Prinzipien nicht "an sich", also unabhängig und außerhalb unseres Erkenntnisprozesses zugänglich sind.

[2] Nachdem neben der euklidischen Raumvorstellung auch andere mögliche mathematische Geometrien gefunden worden waren, führte eine Trennung von Raumzeit und Materie zum Relativismus. Für Berechnungen in der Physik können durchaus unterschiedliche (mathematische) Koordinatensysteme in gleichberechtigter Weise verwendet werden. Allerdings gelten als physikalische Räume nicht diese mathematischen Koordinatensysteme, sondern physikalische Bezugssysteme gegenüber physikalisch real aufweisbaren Kraftwirkungen. (vgl. http://www.thur.de/philo/project/raum.htm)

[3] Dies stimmt weitgehend mit einer Bestimmung der Raumzeit von Kanitscheider überein. Dieser versteht unter Raumzeit die "Gesamtheit aller möglichen Ereignisse, beschrieben durch eine vierdimensionale Mannigfaltigkeit, auf der eine Metrik gegeben ist" (Kanitscheider 1991: 165).

[4] Dieser Gedanke kann weiter geführt werden: Eine Gesamtheit struktureller Beziehungen erfasst neben aktuell realisierten Beziehungen auch die Gesamtheit aller im jeweiligen Bereich möglichen, aber nicht aktuell verwirklichten Beziehungen. Dann erhalten wir eine sinnvolle Differenzierung zwischen Raum und Materie: Der Raum gibt in abstrakter Weise die strukturellen Möglichkeiten vor, aus denen sich jeweils konkret bestimmte Möglichkeiten verwirklicht haben und uns als konkrete materielle Strukturen begegnen.

[5] Zwar kann vielleicht gesagt werden, dass es die Materie "an sich" auch schon vor und außerhalb unserer Beziehungen zu ihr gibt, aber alle unsere Aussagen über sie sind immer nur Aussagen innerhalb solcher Beziehungen. Wir stehen nicht auf einem unbeteiligten "göttlichen" Beobachterstandpunkt, sondern wir als Aussagende sind immer in-Beziehung-Stehende und unsere Aussagen sagen etwas über die Welt-in-Beziehung-mit-uns.

[6] Mehr dazu unter http://www.thur.de/philo/project/arbeit10.htm.

[7] Die Fußnote 5 entspricht nur dem ersten Teil dieser Aussage - es wird betont, dass alle Wahrheiten nur relativ sind. Dass die angestrebten Erkenntnisse aber Wahrheiten sind, kann dabei verloren gehen (postmoderne Beliebigkeit).


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