Philosophie der Raumzeit
Gerade mit der Frage von Raum und Zeit befinden wir uns im Verflechtungspunkt von verschiedenen möglichen Sichtweisen. Auf der einen Seite sprechen wir von Räumen in einem vollkommen abstrakten mathematischen Sinn. Geordnete Punktmengen mit definiertem Abstand oder Mannigfaltigkeiten mit Metrik und Topologie haben hier ihren Platz. Auf der anderen Seite haben wir unsere reale, wirkliche Welt, über deren Strukturen und Bewegungsformen wir in der Wissenschaft Aussagen machen wollen. Aber es gilt nicht nur die Beziehung von wirklichen räumlichen Beziehungen und ihren mathematischen Darstellungen zu diskutieren, denn "kein Physiker mißt mit Geräten, die in einem abstrakten Raum aufgestellt sind." (Treder 1966: 565) Physik als Erkundung der Veränderbarkeit
Aus den wirklichen, den unendlich komplexen, widersprüchlich miteinander verflochtenen Momenten der realen Welt lösen wir in unserer Erkenntnis Teile heraus, um sie in einer Art und Weise zu erfassen, die sich aus unserer Lebensweise ergibt. Menschen verändern die Bedingungen ihres Lebens maßgeblich und bewusst durch gesellschaftliche Arbeit - Wissenschaft hat als Moment dieser umfassenden Prozesse die Aufgabe, die objektiven Veränderungsmöglichkeiten der Wirklichkeit zu erkunden (vgl. Laitko 1979: 84, Bloch PH: 286). Veränderbarkeit bedeutet, dass sich in einem Wirklichkeitsbereich etwas in Bezug auf etwas anderes verändert. Die Form, in der speziell in der Physik Aussagen über die Veränderbarkeit ihrer Gegenstände, der physikalischen Bewegungsformen gemacht werden, sind die physikalischen Naturgesetze. Die Frage nach der Veränderbarkeit lässt sich auch umformulieren in die Frage, welche Bewegungsmöglichkeiten die Gegenstände haben. In diesem Sinne erfasst jedes Naturgesetz die Bewegungsmöglichkeiten unter gegebenen Bedingungen. 1. gibt das Gesetz für den Gegenstand nicht direkt seine konkrete Bewegungsweise vor, sondern lediglich die für ihn gegebenen Bewegungsmöglichkeiten[2] (das Keplersche Gesetz sagt dem Planeten P nicht, wo er sich zum Zeitpunkt t genau aufzuhalten hat, sondern es gibt die mögliche Bahn für vor, auf denen sich ein Planet auf seinem Weg um den Zentralstern bewegen kann. 2. unterliegt jedes Gesetz Existenz- und Wirkungsbedingungen und u.U. (z.B. in der Technik) können diese Bedingungen verändert werden und deshalb kann beeinflusst werden, welches Gesetz zur Wirkung kommt.
Wenn bisher von Gegenständen und Theorien gesprochen wurde, so war darin eine Unterscheidung zwischen Erkenntnisobjekten und Erkenntnisresultaten vorausgesetzt. Im Erkenntnisprozess sind jedoch weitere Momente wesentlich: Erkenntnis ist eine Tätigkeit von Erkenntnissubjekten und diese Subjekte begegnen ihren Objekten nicht unmittelbar, sondern sie erzeugen und verwenden gegenständliche und auch theoretische Erkenntnismittel. Der Doppelcharakter des Raums als Erkenntnisobjekt und -mittel
Wir hatten festgestellt, dass der Status des Raumes auch in der Allgemeinen Relativitätstheorie noch nicht komplikationslos feststeht. Der Raumzeitbegriff ist komplexer geworden. Uns begegnet der Raum als "Gravitationsäther", der trotz seiner lokalen Bestimmung durch das Gravitationsfeld im Infinitesimalen eine minkowskische Struktur hat (und damit starre Messkörper ermöglicht) und deren kosmisch-globale Struktur sich ebenfalls nicht direkt aus der Feldgleichung ergibt, sondern weitere Zusatzannahmen erfordert. Bei der Interpretation von Kant wird meist nur auf das Vorausgesetztsein der Raumvorstellung verwiesen, aber vergessen, dass auch bei Kant voraus gesetzt war, dass in dieser Raumvorstellung die "Prinzipien der Verhältnisse" der Gegenstände (Kant KrV: 70) enthalten sind. Die Raumvorstellung ist also nicht beliebig, sondern gebunden an die Verhältnisse der Gegenstände selbst. Auf diese Weise sind Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekte voneinander abhängig und nicht voneinander trennbar. Renate Wahsner arbeitete heraus, dass physikalische Messgrößen grundsätzlich erkenntnistheoretisch gesehen Erkenntnismittel, physikalisch gesehen jedoch Erkenntnisobjekte der Physik sind. (Wahsner 1996: 121) Wir untersuchen objektive räumliche Lageveränderungen mittels Vergleich von Längen mit starren Maßstäben, die es so in der Natur nicht gibt. Trotzdem erfolgt die Herstellung unserer Erkenntnismittel, hier der starren Maßstäbe, nicht willkürlich und beliebig, sondern entsprechend den in der objektiven Realität vorhandenen Verhältnissen. Wir sahen das in der Einsteinschen Argumentation (gegen Weyl) über die Möglichkeit der Idealisierung von Längen und konstanter Zeitabstände wegen der Existenz scharfer Spektrallinien. Nach von Borzeszkowski und Wahsner sind Messgrößen "auf der Basis real vorhandener Gleichheiten konstruierte Gedankendinge, mit deren Hilfe man das eigentliche Erkenntnisobjekt, die Wirklichkeit [...]erkennt" (Von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 156). Diese Größen können nicht mit dem Objekt identifiziert werden, aber sie erfassen jeweils eine wesentliche Verhaltensweise der Objekte. Gerade weil keine Größe allein mit einem Objekt identifizierbar ist, werden zur Beschreibung der Bewegungsmöglichkeiten von Objekten jeweils geeignete Kombinationen von verschiedenen Größen benötigt. Physik geht nie in reine Mathematik, bei der die Qualität der Größen keine Rolle zu spielen braucht, über. Im Miteinander von Erkenntnissubjekt, Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekt bestimmen sich diese Momente gegenseitig. Bestimmte Zusammenhänge der objektiven Realität werden vom Erkenntnissubjekt unter Verwendung bestimmter Erkenntnismittel zu Erkenntnisobjekten. Diese Erkenntnisobjekte, d.h. die untersuchten Gegenstände sind nicht die Naturbeziehungen "an sich", sondern als Objekte unserer Erkenntnis, Gegenstände "für uns". Auch wenn die modernere Naturwissenschaft immer mehr die Eigenaktivität natürlicher Gegenstände untersucht, untersucht sie diese doch in Form des Objekts (vgl. von Borzeszkowski, Wahsner 1992: 17) und nicht ernsthaft als Mit-Subjekt. Das Subjekt der Erkenntnis bestimmt sich auch im Erkenntnisprozess selbst. Wissenschaftliche Erkenntnis vollzieht sich zwar wie alle gesellschaftliche Tätigkeiten nur im Tun von menschlichen Individuen, aber im Erkenntnissubjekt wird die menschliche Sinnlichkeit, das subjektive Empfinden jeweils methodisch umgearbeitet in einer Weise, dass die Erkenntnisse intersubjektiv gelten können und verallgemeinerbare, für alle gesellschaftlich tätigen Menschen - nicht nur das subjektiv empfindende bzw. konkret-sinnlich wahrnehmende - geltende Ergebnisse entstehen. Der naturwissenschaftliche Standpunkt negiert nicht das Subjekt sondern, "unterstellt nur eine Art von Subjekt, womit das ihm entgegenstehende Objekt eindeutig bestimmt ist. Er hält verschiedene Subjekte nicht für möglich und darf es nicht." (von Borzeszkowski, Wahsner 1987: 1114) Der Raum (bzw. die Raumzeit) kann in dieser Weise verstanden werden als physikalisches Erkenntnisobjekt, das sich philosophisch wenigstens zum Teil als Erkenntnismittel verstehen lässt. Das Erkenntnissubjekt (d.h. die erkennende Menschheit) entwickelt praktische und Denkmittel, die es ihm ermöglichen, die Bewegungsweise ihrer Untersuchungsgegenstände immer umfassender und genauer zu verstehen. Der Gegenstand der Untersuchung ist die Bewegung und Bewegung vollzieht sich gegenüber einem relativ dazu unbewegten "Etalon" - beide Momente müssen im Prozess der Bewegung erfasst werden. Wie wir sahen, verändert sich der Inhalt dessen, was als Bewegung und was als jeweils gegebene Voraussetzung zu verstehen ist, mit der Entwicklung jeweils neuer, die alten umfassenden Theorien. Die Unterscheidung zwischen direktem Erkenntnisobjekt und dementsprechend angemessenen Erkenntnismitteln bleibt jedoch eine allgemeine Eigenschaft der erkennenden Beziehung von Menschen gegenüber der Welt. Der Raum als passives und aktives Prinzip
Newtons Grundlegung der Physik lehnte die frühere Unterscheidung von Dingen und ihren spezifischen ("okkulten") Qualitäten ab. Er unterschied stattdessen Körper und Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Die Kräfte werden durch die Beziehung der Körper zueinander konstituiert. Während Newton die Körper, die durch Härte oder Trägheit charakterisiert sind, als passive Prinzipien seiner Physik versteht, bezeichnet er die Kräfte wie die Gravitation oder so etwas wie Kohäsionskraft oder Gärungsursachen als aktive Prinzipien (Newton Opt.: 168, vgl. Wahsner 1981: 60f.). Kräfte sind nicht den einzelnen Körpern inhärent (wie Eigenschaften), sondern existieren nur in der Beziehung der Körper aufeinander. Damit ist eine mechanistische Sichtweise, die in Körpern voneinander isolierte Dinge sehen, ausgeschlossen. Allerdings werden Dinge und Kräfte auch nicht ununterscheidbar miteinander vermischt, sondern auf spezifische Weise, nämlich in der Unterscheidung passiver und aktiver Prinzipien als Momente der Bewegung darstellbar gemacht. Die Raumzeit als Struktur von Bewegungsmöglichkeiten Wir hatten den Doppelcharakter der Raumzeit als Erkenntnisobjekt und Erkenntnismittel, als Bestandteil der aktiven und der passiven Prinzipien kennen gelernt. Die Raumzeit, bzw. andere passive Prinzipien sind als Voraussetzung von Messungen, d.h. der physikalischen Erfahrung, Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von in sich widersprüchlicher Bewegung. Zumindest in den gegenwärtig diskutierten Theorieformen der Einzelwissenschaft Physik ist es nicht möglich, die Widersprüchlichkeit der Bewegung (vgl. Zenon) allein in Bewegungs- bzw. Feldgleichungen zu erfassen, sondern die Erfassung der Bewegung (aktives Prinzip) erfordert eine Bezugnahme auf einen relativ gegenüber den Feld/Kraftwirkungen unbeeinflussten "Standard". Im Fortschritt der Wissenschaft werden immer mehr Anteile des vorher a priorischen Anteils als physikalisch bedingt erkannt, die Physik erfasst immer mehr Momente der realen Widersprüchlichkeit. Insofern vertieft jede neue Einheit von aktiven und passiven Momenten, von dynamischen Gesetzen und aus vorausgesetzten a priori- Anteilen das Verständnis der wirklichen Widersprüchlichkeit. Obwohl all diese Erkenntnisresultate Resultate "für uns" sind, also lediglich relative Wahrheiten (Lenin MuE: 116), erschließen wir uns mit jeder der aufeinander folgenden Theorien weitere Bereiche der Wirklichkeit und es entstehen neue Gegenstandsbereiche, in denen sich eine neue Form der Widersprüchlichkeit zeigt, die wir innerhalb der vorhergehenden Theorie gar nicht erahnen konnten. Das, was als objektive Grundlage der Raumvorstellung zugrunde liegt, ist quasi immer ein "Platzhalter" für noch nicht erkannte tiefer liegende widersprüchliche Strukturen der Welt.Diese Funktion des "Platzhalters" übernehmen in vielen Theorien, sogar noch in der allgemeinen Relativitätstheorie, zumindest (die passiven, d.h. die messtheoretisch notwendigen) Teile der Raumzeit. Deren Spezifik besteht darin, mit "Bahnkurven und Lagebeziehungen" verbunden zu sein (Hörz 1971: 327), bzw. mathematisch als "vierdimensionale Mannigfaltigkeit, auf der eine Metrik gegeben ist" (Kanitscheider 1991: 165) darstellbar zu sein. In ontologisierender Sprechweise wird der Raum auch charakterisiert als "Struktur eines Systems" (Hörz 1971: 327) bzw. als "Gesamtheit aller möglichen Ereignisse" (Kanitscheider 1991: 165). Damit unterscheiden sich das dynamische Gesetz (aktives Prinzip) und der Raum (passives Prinzip) durch die Art der Möglichkeit, die in ihnen eine Rolle spielt. Im Gesetz wird die reale Möglichkeit der jeweils konkret erfassten Erkenntnisgegenstände erfasst, während der Raum als (abstrakter) "Platzhalter" für jeweils noch nicht erfasste Momente steht. Es ist zu vermuten, dass immer wieder das Bestreben existiert, eine endgültig einheitliche, nicht mehr dualistisch in aktive und passive Momente unterschiedene Wissenschaft zu erhalten - dass eine solche aber niemals erreicht werden wird. Zumindest wäre für jeden Kandidaten einer solchen Einheitstheorie sehr sorgfältig zu überprüfen, inwieweit die Überprüfung ihrer Angemessenheit gegenüber der wirklichen Welt neue messtheoretische a priori erfordert. Wahrscheinlich ist die bewusste Suche nach solchen den neuen Fragestellungen angemessenen Erkenntnismitteln statt ihrer Leugnung ein wichtiger Schritt in der Entwicklung neuer Theorien. Der Fortschritt der Wissenschaften verläuft nicht nur über die Aufeinanderfolge der Theorien, sondern vor allem über die Entwicklung der Erkenntnismittel. Die Entstehung neuer Theorien ist kein Akt unerklärlicher Genialität, sondern Ergebnis der Erarbeitung neuer Denk- und Erkenntnismittel, wie an der Entwicklung der Einsteinschen Theorien besonders deutlich gesehen werden kann (vgl. Renn 2006). Fußnoten: [1] vgl. Kuhn 1977: 294. [2]Zu einem das Möglichkeitsfeld berücksichtigenden Gesetzesbegriff siehe Hörz 1974: 365/366. [3]Dies gilt auch über die Physik hinaus: "Materielle Systeme verschiedener Entwicklungsstufen haben ihre eigenen raumzeitlichen Strukturen" (Hörz 1971: 261; vgl. auch Gehlhar, Röseberg 1996: 777). [4] vgl. dazu auch: von Borzeszkowski 1992 und Wahsner 1992. |
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