Philosophie der Raumzeit

Mathematik-Physik-Welt
Der Doppelcharakter des Raums als Erkenntnisobjekt und -mittel
Der Raum als passives und aktives Prinzip
Die Raumzeit als Struktur von Bewegungsmöglichkeiten
Ausblick

Mathematik-Physik-Welt

Gerade mit der Frage von Raum und Zeit befinden wir uns im Verflechtungspunkt von verschiedenen möglichen Sichtweisen. Auf der einen Seite sprechen wir von Räumen in einem vollkommen abstrakten mathematischen Sinn. Geordnete Punktmengen mit definiertem Abstand oder Mannigfaltigkeiten mit Metrik und Topologie haben hier ihren Platz. Auf der anderen Seite haben wir unsere reale, wirkliche Welt, über deren Strukturen und Bewegungsformen wir in der Wissenschaft Aussagen machen wollen. Aber es gilt nicht nur die Beziehung von wirklichen räumlichen Beziehungen und ihren mathematischen Darstellungen zu diskutieren, denn "kein Physiker mißt mit Geräten, die in einem abstrakten Raum aufgestellt sind." (Treder 1966: 565)
Wir müssen also Räume in der Wirklichkeit, der Mathematik und der Physik unterscheiden und jeweils ihre Beziehungen untersuchen. In der Physik werden mathematischen Parametern physikalische Bedeutungen zugeordnet. Schon für Einstein war es wichtig, zwischen der reinen Geometrie als Bereich der Mathematik, bei der die fehlerlose Ableitung aus Axiomen das Wesentliche ist, und einer Geometrie, deren Grundbegriffen Naturobjekte zugeordnet werden, zu unterscheiden. (Einstein 1922/1979: 11f.; vgl. auch Einstein 1920d: 250) Diese Differenzierung zeigt sich auch in der Unterscheidung (mathematischer) Koordinatensysteme und (physikalischer) Bezugssysteme.

Die raumzeitliche Beschreibung eines physikalischen Geschehens bedeutet die Benutzung eines räumlichen Bezugssystems mit drei eindeutigen unabhängigen räumlichen Koordinaten und einer Uhr, deren Anzeige eindeutig einer zeitlichen Koordinate zugeordnet werden kann. Die benutzten vier Koordinaten fungieren dabei als Parameter, denen im Zusammenhang mit der Definition eines physikalischen Längenbegriffs und eines physikalischen Zeitbegriffs ein physikalischer Sinn gegeben werden muß. (Schmutzer 1989: 254) Gerade die Berücksichtigung der besonderen Rolle der physikalischen Bedeutungen für raumzeitliche Parameter wird häufig vernachlässigt. Das sog. "Meßproblem" in der Quantentheorie ist allgegenwärtig in den Diskussionen um diese Theorie. Für die Relativitätstheorien oder gar die Klassische Physik wird diese Problematik häufig vernachlässigt. Aber auch hier kommt der Frage nach der spezifischen Art der physikalischen Erfahrung, die - zumindest seit 1840[1] - mit der Messung von Grundgrößen zusammen hängt, eine große Rolle zu.

Physik als Erkundung der Veränderbarkeit

Aus den wirklichen, den unendlich komplexen, widersprüchlich miteinander verflochtenen Momenten der realen Welt lösen wir in unserer Erkenntnis Teile heraus, um sie in einer Art und Weise zu erfassen, die sich aus unserer Lebensweise ergibt. Menschen verändern die Bedingungen ihres Lebens maßgeblich und bewusst durch gesellschaftliche Arbeit - Wissenschaft hat als Moment dieser umfassenden Prozesse die Aufgabe, die objektiven Veränderungsmöglichkeiten der Wirklichkeit zu erkunden (vgl. Laitko 1979: 84, Bloch PH: 286). Veränderbarkeit bedeutet, dass sich in einem Wirklichkeitsbereich etwas in Bezug auf etwas anderes verändert. Die Form, in der speziell in der Physik Aussagen über die Veränderbarkeit ihrer Gegenstände, der physikalischen Bewegungsformen gemacht werden, sind die physikalischen Naturgesetze. Die Frage nach der Veränderbarkeit lässt sich auch umformulieren in die Frage, welche Bewegungsmöglichkeiten die Gegenstände haben. In diesem Sinne erfasst jedes Naturgesetz die Bewegungsmöglichkeiten unter gegebenen Bedingungen. 1. gibt das Gesetz für den Gegenstand nicht direkt seine konkrete Bewegungsweise vor, sondern lediglich die für ihn gegebenen Bewegungsmöglichkeiten[2] (das Keplersche Gesetz sagt dem Planeten P nicht, wo er sich zum Zeitpunkt t genau aufzuhalten hat, sondern es gibt die mögliche Bahn für vor, auf denen sich ein Planet auf seinem Weg um den Zentralstern bewegen kann. 2. unterliegt jedes Gesetz Existenz- und Wirkungsbedingungen und u.U. (z.B. in der Technik) können diese Bedingungen verändert werden und deshalb kann beeinflusst werden, welches Gesetz zur Wirkung kommt.
Da qualitativ unterschiedliche Strukturniveaus der Bereiche der Welt zu berücksichtigen sind und in einer Naturwissenschaft niemals die Gesamtheit der Welt erfasst wird, gibt es für bestimmte qualitativ vergleichbare Gegenstände Gesetze und diese Gesetze bilden für zusammen gehörige Gegenstandsbereiche systematische Zusammenhänge in Form von Theorien.
Es zeigt sich, dass jeweils für bestimmte Theorien dazu passende Raumzeitkonzepte gehören, und diese hängen selbstverständlich vom Objektbereich ab.[3]

Die mathematischen Strukturen, die zur Beschreibung der physikalisch wesentlichen Eigenschaften von Raum und Zeit in der Physik einzuführen sind, hängen von der raumzeitlichen Größenordnung der betrachteten physikalischen Systeme ab. (Treder 1968: 7) So unterscheidet Kanitscheider (1991: 157), weitgehend Treder folgend, den mesokosmischen Bereich, in dem die pseudo-euklidische Minkowski-Raumzeit gilt, während in astronomischen Bereichen, in denen das Gravitationsfeld eine Rolle spielt, die Riemannsche Geometrie verwendet werden muss. Im mikroskopischen Bereich (unter 10-15... 10-33cm) findet die Anwendbarkeit glatter Mannigfaltigkeiten ihr Ende (ebd.: 165).
Wenn bisher von Gegenständen und Theorien gesprochen wurde, so war darin eine Unterscheidung zwischen Erkenntnisobjekten und Erkenntnisresultaten vorausgesetzt. Im Erkenntnisprozess sind jedoch weitere Momente wesentlich: Erkenntnis ist eine Tätigkeit von Erkenntnissubjekten und diese Subjekte begegnen ihren Objekten nicht unmittelbar, sondern sie erzeugen und verwenden gegenständliche und auch theoretische Erkenntnismittel.

Der Doppelcharakter des Raums als Erkenntnisobjekt und -mittel

Wir hatten festgestellt, dass der Status des Raumes auch in der Allgemeinen Relativitätstheorie noch nicht komplikationslos feststeht. Der Raumzeitbegriff ist komplexer geworden. Uns begegnet der Raum als "Gravitationsäther", der trotz seiner lokalen Bestimmung durch das Gravitationsfeld im Infinitesimalen eine minkowskische Struktur hat (und damit starre Messkörper ermöglicht) und deren kosmisch-globale Struktur sich ebenfalls nicht direkt aus der Feldgleichung ergibt, sondern weitere Zusatzannahmen erfordert.
Wir kommen damit weder zu der positivistisch-naiven Annahme, dass die Raumzeit uns einfach sinnlich gegeben sei, noch können wir mit Kant annehmen, die Raumvorstellung sei uns Menschen ein für allemal vor aller Erfahrung in unveränderlicher Weise gegeben. Wir kommen nicht umhin, die Komplexität des Erkenntnisprozesses in seiner Einheit von Erkenntnissubjekt, Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekt in Betracht zu ziehen.
Wir sahen, dass es in der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie notwendig war, für die durch das Gravitationsfeld "gekrümmte" Raumzeit eine Beschreibungsweise zu finden, die trotz dieser lokalen Krümmung die Definition starrer Einheitsmaßstäbe ermöglicht. Diese Einschränkung hatte messtheoretische Gründe. Einstein verteidigte die Notwendigkeit dieser Voraussetzung beispielsweise gegen Hermann Weyl (s.o.). Für die Newtonsche Theorie war noch die gesamte absolute Raumgeometrie notwendig als "Etalon", um ihr gegenüber Kraftwirkungen bestimmen zu können. Die allgemeine Relativitätstheorie reduzierte den messtheoretischen Anteil der Geometrie, indem sie deren Metrik "physikalisierte". Trotzdem bleiben Anteile der Geometrie, "die durch Meßgründe bedingt sind,[und] niemals aus der Dynamik (Feld- bzw. Bewegungsgesetz) der jeweiligen physikalischen Theorie abgeleitet werden können, sondern ihr vorausgesetzt werden müssen." (von Borzeszkowski, Wahsner 1980: 685)[4] Dabei sind physikalische Theorie und vorauszusetzende messtheoretische Raumzeitvorstellungen niemals unabhängig voneinander, sondern die Dynamik für den entsprechenden Gegenstandsbereich entscheidet mit, welche Raumzeitvorstellung angemessen ist. Die "Konstruktion" der vorauszusetzenden Raumzeit ist nicht beliebig, sondern da sie gerade wegen der Messung notwendig ist, sichert gerade sie die objektive Erkenntnis realer raumzeitlicher Strukturen. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Für Einstein schienen solche Erkenntnismittel nur zeit- und übergangsweise notwendig zu sein:

Der Begriff des Meßkörpers [...] findet in der wirklichen Welt kein ihm exakt entsprechendes Objekt. [...] Aber es ist meine Überzeugung, daß diese Begriffe beim heutigen Entwicklungsstadium der theoretischen Physik noch als selbständige Begriffe herangezogen werden müssen... (Einstein 1953: 161) Tatsächlich verschieben sich im Verlaufe des Erkenntnisfortschritts die Anteile des Vorauszusetzende, das Apriorischen. Was vorher a priorisch war, wird in folgenden Theorien in die Dynamik einbezogen. Diese Entwicklung stellt sich als immer schärfere Bestimmung dessen dar, was notwendig ist, um Messung zu ermöglichen. (von Borzeszkowski, Wahsner 1980: 695) Kant hat also insofern Recht, als jede Erkenntnis Voraussetzungen (Erkenntnismittel) benötigt, die nicht direkt aus der Theorie (dem Erkenntnisresultat) selbst folgen: das sind Voraussetzungen "vor der Erfahrung" (a priori). Allerdings ist jedes a priori selbst relativ in Bezug auf den Gegenstandsbereich und die ihn erfassenden Theorie.
Bei der Interpretation von Kant wird meist nur auf das Vorausgesetztsein der Raumvorstellung verwiesen, aber vergessen, dass auch bei Kant voraus gesetzt war, dass in dieser Raumvorstellung die "Prinzipien der Verhältnisse" der Gegenstände (Kant KrV: 70) enthalten sind. Die Raumvorstellung ist also nicht beliebig, sondern gebunden an die Verhältnisse der Gegenstände selbst. Auf diese Weise sind Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekte voneinander abhängig und nicht voneinander trennbar.
Renate Wahsner arbeitete heraus, dass physikalische Messgrößen grundsätzlich erkenntnistheoretisch gesehen Erkenntnismittel, physikalisch gesehen jedoch Erkenntnisobjekte der Physik sind. (Wahsner 1996: 121) Wir untersuchen objektive räumliche Lageveränderungen mittels Vergleich von Längen mit starren Maßstäben, die es so in der Natur nicht gibt. Trotzdem erfolgt die Herstellung unserer Erkenntnismittel, hier der starren Maßstäbe, nicht willkürlich und beliebig, sondern entsprechend den in der objektiven Realität vorhandenen Verhältnissen. Wir sahen das in der Einsteinschen Argumentation (gegen Weyl) über die Möglichkeit der Idealisierung von Längen und konstanter Zeitabstände wegen der Existenz scharfer Spektrallinien. Nach von Borzeszkowski und Wahsner sind Messgrößen "auf der Basis real vorhandener Gleichheiten konstruierte Gedankendinge, mit deren Hilfe man das eigentliche Erkenntnisobjekt, die Wirklichkeit [...]erkennt" (Von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 156). Diese Größen können nicht mit dem Objekt identifiziert werden, aber sie erfassen jeweils eine wesentliche Verhaltensweise der Objekte. Gerade weil keine Größe allein mit einem Objekt identifizierbar ist, werden zur Beschreibung der Bewegungsmöglichkeiten von Objekten jeweils geeignete Kombinationen von verschiedenen Größen benötigt. Physik geht nie in reine Mathematik, bei der die Qualität der Größen keine Rolle zu spielen braucht, über.
Im Miteinander von Erkenntnissubjekt, Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekt bestimmen sich diese Momente gegenseitig. Bestimmte Zusammenhänge der objektiven Realität werden vom Erkenntnissubjekt unter Verwendung bestimmter Erkenntnismittel zu Erkenntnisobjekten. Diese Erkenntnisobjekte, d.h. die untersuchten Gegenstände sind nicht die Naturbeziehungen "an sich", sondern als Objekte unserer Erkenntnis, Gegenstände "für uns". Auch wenn die modernere Naturwissenschaft immer mehr die Eigenaktivität natürlicher Gegenstände untersucht, untersucht sie diese doch in Form des Objekts (vgl. von Borzeszkowski, Wahsner 1992: 17) und nicht ernsthaft als Mit-Subjekt. Das Subjekt der Erkenntnis bestimmt sich auch im Erkenntnisprozess selbst. Wissenschaftliche Erkenntnis vollzieht sich zwar wie alle gesellschaftliche Tätigkeiten nur im Tun von menschlichen Individuen, aber im Erkenntnissubjekt wird die menschliche Sinnlichkeit, das subjektive Empfinden jeweils methodisch umgearbeitet in einer Weise, dass die Erkenntnisse intersubjektiv gelten können und verallgemeinerbare, für alle gesellschaftlich tätigen Menschen - nicht nur das subjektiv empfindende bzw. konkret-sinnlich wahrnehmende - geltende Ergebnisse entstehen. Der naturwissenschaftliche Standpunkt negiert nicht das Subjekt sondern, "unterstellt nur eine Art von Subjekt, womit das ihm entgegenstehende Objekt eindeutig bestimmt ist. Er hält verschiedene Subjekte nicht für möglich und darf es nicht." (von Borzeszkowski, Wahsner 1987: 1114)
Der Raum (bzw. die Raumzeit) kann in dieser Weise verstanden werden als physikalisches Erkenntnisobjekt, das sich philosophisch wenigstens zum Teil als Erkenntnismittel verstehen lässt. Das Erkenntnissubjekt (d.h. die erkennende Menschheit) entwickelt praktische und Denkmittel, die es ihm ermöglichen, die Bewegungsweise ihrer Untersuchungsgegenstände immer umfassender und genauer zu verstehen. Der Gegenstand der Untersuchung ist die Bewegung und Bewegung vollzieht sich gegenüber einem relativ dazu unbewegten "Etalon" - beide Momente müssen im Prozess der Bewegung erfasst werden. Wie wir sahen, verändert sich der Inhalt dessen, was als Bewegung und was als jeweils gegebene Voraussetzung zu verstehen ist, mit der Entwicklung jeweils neuer, die alten umfassenden Theorien. Die Unterscheidung zwischen direktem Erkenntnisobjekt und dementsprechend angemessenen Erkenntnismitteln bleibt jedoch eine allgemeine Eigenschaft der erkennenden Beziehung von Menschen gegenüber der Welt.

Der Raum als passives und aktives Prinzip

Newtons Grundlegung der Physik lehnte die frühere Unterscheidung von Dingen und ihren spezifischen ("okkulten") Qualitäten ab. Er unterschied stattdessen Körper und Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Die Kräfte werden durch die Beziehung der Körper zueinander konstituiert. Während Newton die Körper, die durch Härte oder Trägheit charakterisiert sind, als passive Prinzipien seiner Physik versteht, bezeichnet er die Kräfte wie die Gravitation oder so etwas wie Kohäsionskraft oder Gärungsursachen als aktive Prinzipien (Newton Opt.: 168, vgl. Wahsner 1981: 60f.). Kräfte sind nicht den einzelnen Körpern inhärent (wie Eigenschaften), sondern existieren nur in der Beziehung der Körper aufeinander. Damit ist eine mechanistische Sichtweise, die in Körpern voneinander isolierte Dinge sehen, ausgeschlossen. Allerdings werden Dinge und Kräfte auch nicht ununterscheidbar miteinander vermischt, sondern auf spezifische Weise, nämlich in der Unterscheidung passiver und aktiver Prinzipien als Momente der Bewegung darstellbar gemacht.
Diese Unterscheidung von passiven und aktiven Prinzipien wurde von Newton zuerst in der Form der Unterscheidung von Körpern und den zwischen ihnen wirkenden Kräften gemacht. Diese Unterscheidung zeigt sich aber auch in der Form, dass zwischen Gesetzen (als aktiven Prinzipien) und ihren Wirkungs- und Existenzbedingungen (als passive Prinzipien) unterschieden wird und ebenfalls in der Form, dass es einerseits Gesetze für die realen Bewegungsmöglichkeiten der Gegenstände gibt und dass sich andererseits diese Bewegung in unserer Erkenntnis durch reproduzierbare Messungen abbilden lassen muss. Für die raumzeitliche Bewegung ergibt sich die Unterscheidung von Bewegungsdynamik und messtheoretisch vorauszusetzender Raumzeit mit starren, vergleichbaren Längenmaßstäben und gleichmäßig gehenden, vergleichbaren Uhren. Wir erkennen die physikalische Bewegung (z.B. die beschleunigte Ortsveränderung) immer nur im Verhältnis zu einem "Standard" (z.B. der geradlinig-gleichförmigen Bewegung als Trägheitsbewegung). Erkenntnis ist nie nur das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und der Welt "an sich", sondern der Prozess des Erfassens der Erkenntnisgegenstände (z.B. der physikalischen Bewegung) unter der Bedingung ihrer physikalischen Reproduzierbarkeit, d.h. der Messbarkeit (d.h. der Verwendung starrer Maßstäbe und einer entsprechenden Geometrie als Erkenntnismittel). Das jeweils als zweites genannte Moment der Erkenntnis muss zwar dem Gegenstand angemessen sein (er muss wirkliche Verhaltensweisen des Gegenstandes zu messen erlauben), aber er muss selbständig entwickelt und zur Verfügung gestellt werden, also "vor der Erfahrung" (a priori).
Im Fortschritt der Wissenschaft wird der jeweilige a priori-Bereich immer mehr reduziert. Während die Newtonsche Physik den gesamten (euklidischen) Raum voraus setzen musste, übernahm die allgemeine Relativitätstheorie die Metrik des (Riemannschen) in die Dynamik des physikalischen Gravitationsfelds. Dieser Raum muss aber wenigstens im Infinitesimalen die Definition starrer Körper und gleichmäßiger Uhren ermöglichen - hier hat der Riemannsche Raum tatsächlich eine quasi-euklidische, minkowskische Struktur. Andererseits gilt die Äquivalenz von Krümmungsmetrik und Gravitation nur lokal und für globale, kosmische Aussagen müssen weitere Annahmen voraus gesetzt und durch astrophysikalische Untersuchungen plausibel gemacht werden. In diesen Formen, die die Raumzeit in der allgemeinen Relativitätstheorie annimmt, zeigen sich Anteile des Raums in den aktiven Prinzipien (die Metrik) und in den passiven Prinzipien (das messtheoretische notwendige Infinitesimale).
Wie wir sahen, war für Einstein diese Situation noch kein Endzustand. Er suchte weiterhin nach einer vereinheitlichten Theorie, bei der es möglichst keine a priorischen Teil geben sollte. Ob dieses Vereinheitlichungsstreben tatsächlich zu einem Abschluss gelangen kann?

Ein Ziel der weiteren Geschichte der Physik ist es [..] herauszufinden, ob die Aufspaltung nicht auch anders vollzogen werden kann (z.B. so, daß weniger "apriorische" Bestimmungen erforderlich sind) oder ob sie nicht generell vermieden werden kann (worin die Zielstellung der unitären Theorien bzw. einheitlicher Feldtheorien bestehen). (von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 30) An anderer Stelle schrieben diese beiden Autoren jedoch: "Ein "apriorischer Anteil" ist - so zeigt sich - für die Einzelwissenschaft Physik unabdingbar. Gerade das unterscheidet sie von der Philosophie." (von Borzeszkowski, Wahsner 1979: 222, vgl. Wahsner 1981: 166) Renate Wahsner bekräftigte diese Ansicht später: Das absolute Ganze ist uns nie gegeben - aber stets aufgegeben. (Wahsner 1998: 13) Demnach werden Physikerinnen und Physiker immer wieder davon motiviert sein, eine endgültige Vereinheitlichung aller Momente zu finden - und immer wieder wird sich herausstellen, dass sich auf der Basis des neuen Wissens erneut Momente zeigen, die nicht voraussetzungslos in der einen "Weltformel" enthalten sind, sondern ihr als passives Prinzip, also a priori, vorausgesetzt werden müssen...

Die Raumzeit als Struktur von Bewegungsmöglichkeiten

Wir hatten den Doppelcharakter der Raumzeit als Erkenntnisobjekt und Erkenntnismittel, als Bestandteil der aktiven und der passiven Prinzipien kennen gelernt. Die Raumzeit, bzw. andere passive Prinzipien sind als Voraussetzung von Messungen, d.h. der physikalischen Erfahrung, Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von in sich widersprüchlicher Bewegung. Zumindest in den gegenwärtig diskutierten Theorieformen der Einzelwissenschaft Physik ist es nicht möglich, die Widersprüchlichkeit der Bewegung (vgl. Zenon) allein in Bewegungs- bzw. Feldgleichungen zu erfassen, sondern die Erfassung der Bewegung (aktives Prinzip) erfordert eine Bezugnahme auf einen relativ gegenüber den Feld/Kraftwirkungen unbeeinflussten "Standard". Im Fortschritt der Wissenschaft werden immer mehr Anteile des vorher a priorischen Anteils als physikalisch bedingt erkannt, die Physik erfasst immer mehr Momente der realen Widersprüchlichkeit. Insofern vertieft jede neue Einheit von aktiven und passiven Momenten, von dynamischen Gesetzen und aus vorausgesetzten a priori- Anteilen das Verständnis der wirklichen Widersprüchlichkeit. Obwohl all diese Erkenntnisresultate Resultate "für uns" sind, also lediglich relative Wahrheiten (Lenin MuE: 116), erschließen wir uns mit jeder der aufeinander folgenden Theorien weitere Bereiche der Wirklichkeit und es entstehen neue Gegenstandsbereiche, in denen sich eine neue Form der Widersprüchlichkeit zeigt, die wir innerhalb der vorhergehenden Theorie gar nicht erahnen konnten. Das, was als objektive Grundlage der Raumvorstellung zugrunde liegt, ist quasi immer ein "Platzhalter" für noch nicht erkannte tiefer liegende widersprüchliche Strukturen der Welt.
Diese Funktion des "Platzhalters" übernehmen in vielen Theorien, sogar noch in der allgemeinen Relativitätstheorie, zumindest (die passiven, d.h. die messtheoretisch notwendigen) Teile der Raumzeit. Deren Spezifik besteht darin, mit "Bahnkurven und Lagebeziehungen" verbunden zu sein (Hörz 1971: 327), bzw. mathematisch als "vierdimensionale Mannigfaltigkeit, auf der eine Metrik gegeben ist" (Kanitscheider 1991: 165) darstellbar zu sein.
In ontologisierender Sprechweise wird der Raum auch charakterisiert als "Struktur eines Systems" (Hörz 1971: 327) bzw. als "Gesamtheit aller möglichen Ereignisse" (Kanitscheider 1991: 165). Damit unterscheiden sich das dynamische Gesetz (aktives Prinzip) und der Raum (passives Prinzip) durch die Art der Möglichkeit, die in ihnen eine Rolle spielt. Im Gesetz wird die reale Möglichkeit der jeweils konkret erfassten Erkenntnisgegenstände erfasst, während der Raum als (abstrakter) "Platzhalter" für jeweils noch nicht erfasste Momente steht.

Ausblick

Es ist zu vermuten, dass immer wieder das Bestreben existiert, eine endgültig einheitliche, nicht mehr dualistisch in aktive und passive Momente unterschiedene Wissenschaft zu erhalten - dass eine solche aber niemals erreicht werden wird. Zumindest wäre für jeden Kandidaten einer solchen Einheitstheorie sehr sorgfältig zu überprüfen, inwieweit die Überprüfung ihrer Angemessenheit gegenüber der wirklichen Welt neue messtheoretische a priori erfordert. Wahrscheinlich ist die bewusste Suche nach solchen den neuen Fragestellungen angemessenen Erkenntnismitteln statt ihrer Leugnung ein wichtiger Schritt in der Entwicklung neuer Theorien. Der Fortschritt der Wissenschaften verläuft nicht nur über die Aufeinanderfolge der Theorien, sondern vor allem über die Entwicklung der Erkenntnismittel. Die Entstehung neuer Theorien ist kein Akt unerklärlicher Genialität, sondern Ergebnis der Erarbeitung neuer Denk- und Erkenntnismittel, wie an der Entwicklung der Einsteinschen Theorien besonders deutlich gesehen werden kann (vgl. Renn 2006).

Fußnoten:

[1] vgl. Kuhn 1977: 294.

[2]Zu einem das Möglichkeitsfeld berücksichtigenden Gesetzesbegriff siehe Hörz 1974: 365/366.

[3]Dies gilt auch über die Physik hinaus: "Materielle Systeme verschiedener Entwicklungsstufen haben ihre eigenen raumzeitlichen Strukturen" (Hörz 1971: 261; vgl. auch Gehlhar, Röseberg 1996: 777).

[4] vgl. dazu auch: von Borzeszkowski 1992 und Wahsner 1992.


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