Zur Determinismusdebatte
- Ein wissenschaftlicher Primatsstreit zwischen Henne und Ei -

Während der Arbeit an einer Veröffentlichung zum Zusammenhang von Wissenschaft und ihrer Aussagefähigkeit über die Zukunft erinnerte ich mich an die vielfältigen Untersuchungen zur Determinismusfrage, vor allem von Herbert Hörz. Eine Literaturdurchsucht zeigt mir, dass in der DDR der 70er Jahre nicht nur die Frage der Bedingtheit und Bestimmtheit als Determinismus differenziert erörtert wurde, sondern auch das Verhältnis von Determinismus und Entwicklung sehr streitbar diskutiert wurde. Ich denke, philosophisches Denken mit weltbegreifenden Anspruch hat sich – auch 30 Jahre später – dieser Fragestellungen zu vergewissern, auch wenn die "DDR-Philosophie" zur Fußnote der Philosophiegeschichte verkommt.

1. Determinismus *
2. Entwicklung allgemeiner als Struktur und Bewegung *
3. Struktur und Bewegung allgemeiner als Entwicklung *
4. Welches Allgemeine ist gemeint? *
Literatur *

1. Determinismus

In diesem Text geht es nicht primär um die Debatte um Determinismus oder Indeterminismus.

(Diese Begriffsbestimmung ist ausdrücklich zu unterscheiden von jener, die damit "in der Regel eine These der Prädetermination von (allen) Ereignissen in der Welt" meint (Stekeler-Weithofer 1999: 230)! )
In dieser Frage hatte eine differenzierte Bestimmung und Unterscheidung von Gesetz, Notwendigkeit, kausaler Ablauf, Vorausbestimmtheit und Voraussagbarkeit (Hörz 1973: 174) bereits die größten Sünden eines mechanischen Determinismus beseitigt. Determinismus wird seitdem bestimmt als "philosophische Theorie des objektiven Zusammenhangs und der wechselseitigen Bedingtheit aller Objekte und Prozesse der Natur, der Gesellschaft und des Denkens" (Hörz 1996a: 188).

Die Problematik, um die es mir hier geht, ist jene, ob der Blick auf Strukturen oder jener auf Entwicklungszusammenhänge der "allgemeinere" ist. Diese Problematik entstand bei der Frage, ob "Determinismus" als Konzept vor allem in Struktur- und Bewegungszusammenhängen (unter Abstraktion von der Entwicklung) betrachtet werden kann, oder unbedingt von Entwicklungszusammenhängen ausgehen muss.

Zur Unterscheidung sei hier an die unterschiedlichen Betrachtungs- und Zustandsweisen der Materie erinnert.

  • Struktur bezeichnet die "Anordnung der Teile eines Ganzen" (Max 1999: 1539) und bezieht sich auf die Existenz anderer Qualitäten der gleichen Grundqualitäten (Hörz, Wessel 1983: 49) und bezeichnet eine "Gesamtheit der wesentlichen und unwesentlichen, allgemeinen und besonderen, notwendigen und zufälligen Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems in einem bestimmten Zeitintervall" (Hörz 1996b: 847).
  • Bewegung (auch: Veränderung bzw. Prozess) bezieht sich auf das Entstehen neuer Grundqualitäten (Hörz, Wessel 1983: 49);
  • Entwicklung bezieht sich auf das Auftreten höherer Grundqualitäten (Hörz, Wessel 1983: 49; vgl. auch bzgl. Höherentwicklung und Gerichtetheit: Schurig 1999: 334):

Entwicklung ist die in den Prozessen auftretende Tendenz zum Entstehen höherer Qualitäten, die sich durch qualitative und quantitative Änderungen im Rahmen einer Grundqualität vorbereitet und durch die Entfaltung und Lösung objektiver Widersprüche durchsetzt. (Hörz, Wessel 1983: 49)

2. Entwicklung allgemeiner als Struktur und Bewegung

Gottfried Stiehler eröffnete im Märzheft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 1973 die Kritik an einer Determinismusvorstellung, die seiner Meinung nach dazu führt, dass die Dialektik in zwei verschiedene Theorien zerfällt: den Determinismus (für Strukturen und Bewegungen) und die Entwicklungstheorie (Stiehler 1973: 345). Er kritisierte zwar konkret einen Artikel von Fiedler, Klimaszewsky und Söder, aber gemeint war das Determinismuskonzept von Herbert Hörz.

Gottfried Stiehler befürchtete, diese Behandlung des Determinismus noch außerhalb des Themas Entwicklung würde ihn dieser undialektisch entgegenstellen (ebd.; 344). Er charakterisierte diese Sichtweise als vor-marxistisch, weil Determinismus hier nur als Problem des Zusammenhangs koexistierender Dinge mit Ausschluß der Entwicklung gesehen werde. Stiehler setzt dagegen, dass der Gesichtspunkt der Entwicklung in gewissem Sinne übergreifend sei (ebd: 344). Dialektisches Begreifen habe immer einen historischen Gesichtspunkt einzubringen.

Drei Jahre später wurde eine ähnliche Kritik von Hubert Horstmann geäußert. Auch er sah die Gefahr einer "Zweiteilung der Dialektik" in Determinismus und Entwicklungstheorie (Horstmann 1976: 985). Seiner Meinung nach ist das Hörzsche Konzept "einseitig um Kausalität und Gesetz gruppiert" (ebd.: 973), weil es von der Entwicklung abstrahiere. Damit entstehe die Tendenz, die Grundgesetze der materialistischen Dialektik vom Determinismus weg in den alleinigen Zuständigkeitsbereich der philosophischen Entwicklungstheorie zu delegieren (ebd.: 979). Gegen die Hörzsche Annahme: "Wir können [...] dabei erst einmal die Entwicklung vernachlässigen. (Hörz 1976: 327), stellte er fest: "Entwicklungszusammenhänge sind eine überaus wichtige Form des objektiven Zusammenhangs in Natur und Gesellschaft, sie können nicht einfach aus der philosophischen Theorie des Zusammenhangs herausfallen." (Horstmann 1976: 982). Gegen diese von ihm kritisierte Vernachlässigung der Entwicklung setzte er die Betonung der überragenden erkenntnistheoretische und weltanschauliche Bedeutung der Kategorie der Wechselwirkung und betont, dass sich Strukturen gerade durch Veränderung erhalten (ebd.: 980); sie seien " immer nur zeitweilige Formen der Existenz, Lösung und Reproduktion von Widersprüchen" (ebd.,: 981); worauf sich auf eine"gewisse Dominanz des Prozesses über die Struktur" (ebd.: S. 981, 982) schließen lasse. Er stellt die Aufgabe, den Determinismus von der Widerspruchsdialektik aus zu begründen. Es gehe darum, "die möglichen oder realisierten Zusammenhänge... als mögliche der realisierte Formen der Bewegung dialektischer Widersprüche zu erfassen" (ebd.: 975).

3. Struktur und Bewegung allgemeiner als Entwicklung

Herbert Hörz widersprach bereits der Kritik durch Gottfried Stiehler. Vor allem die befürchtete Trennung innerhalb der Dialektik konnte er nicht nachvollziehen und er betonte, dass der dialektische Determinismus (bezüglich Struktur- und Bewegungszusammenhängen) die Voraussetzungen für das Verständnis der Entwicklungstheorie schaffe (Hörz 1973: 355). Hörz zitiert die von ihm 1971 gegebene Bestimmung des Determinismus:

Der dialektische Determinismus als Teil der materialistischen Dialektik befasst sich mit der Bedingtheit und Bestimmtheit der Objekte und Prozesse im objektiven Zusammenhang. Er schafft durch die Untersuchung des Verhältnisses von Kausalität und Gesetz, von Gesetz und Bedingungen, Notwendigkeit und Zufall usw. theoretische Voraussetzungen für das Verständnis der Entwicklungstheorie. (Hörz 1971 zit. in Hörz 1973: 355)

Hörz geht dabei von seinen Erfahrungen bei der Diskussion philosophischer Probleme der Physik aus. Physikalische Objekte unterliegen bereits Struktur- und Bewegungszusammenhängen, ohne dass ihre Entwicklung Thema werden müsste. Die Stiehlersche Kritik des "Vor-Marxismus" träfe deshalb insbesondere diese Fragestellungen und ignoriere deren Spezifik (Hörz 1973: 356). Auch der historische Standpunkt sei bei der Analyse der Determinismusprobleme in der Physik nicht notwendig (ebd.). Weil für ihn die "Dialektik nicht allein an Entwicklung gebunden ist, sondern in jedem Zusammenhang und jeder Veränderung existiert" (Hörz 1976: 327), geht er davon aus:

Wir können und müssen also die Formen des objektiven Zusammenhangs im dialektischen Determinismus untersuchen und dabei erst einmal die Entwicklung vernachlässigen. (Hörz 1976: 327)

Bezogen auf diese Fragestellungen ist also ein Determinismus von Struktur- und Bewegungszusammenhängen allgemeiner als jener von Entwicklungszusammenhängen. Man kann demnach zwar von Determinismus auch außerhalb einer Entwicklungstheorie sprechen, er bleibe aber immer in einem dialektischen Zusammenhang mit ihr.

Die im dialektischen Determinismus untersuchten Formen des objektiven Zusammenhangs, wie die Verwirklichung von Möglichkeiten, die Durchsetzung der Notwendigkeit, des Gesetzes im Zufall usw., sind Grundlagen von Entwicklungsprozessen, erklären aber die Entwicklung als Entstehen höherer Qualitäten nicht. (Hörz 1976: 327)

In spezifischer Weise gibt es den Determinismus (als Bedingt- und Bestimmtheit) dann natürlich auch in der Entwicklung, als "dialektischer Determinismus für das Entstehen höherer Qualitäten", durch den der frühere Determinismus ausgebaut und präzisiert wird (Hörz 1973: 358).

Wenn also die dialektisch-materialistische Entwicklungstheorie der Kern der Dialektik ist, dann geht es beim dialektischen Determinismus um das Fruchtfleisch, das den Kern umgibt und durch das man hindurchmuß, um zum Kern vorzudringen. (Hörz 1973: 358)

Im Rahmen einer umfassenderen Betrachtung lasse sich weder Entwicklung auf Struktur reduzieren, noch lasse sich alles auf Entwicklung reduzieren (Hörz 1976: 327).

Dialektischer Determinismus und dialektisch-materialistische Entwicklungstheorie durchdringen sich gegenseitig, da objektive dialektische Strukturbeziehungen und das Entstehen neuer Qualitäten Grundlage für das determinierte Auftreten höherer Qualitäten sind. (Hörz 1976: 327)

Obgleich eine Vernachlässigung der Entwicklungstheorie für bestimmte Fragestellungen möglich sei, könne erst die dialektisch materialistische Entwicklungstheorie die materielle Einheit der Welt allseitig erklären (ebd.: 327).

4. Welches Allgemeine ist gemeint?

Wie Herbert Hörz zusammenfasst, ist "Determinismus [...] als Theorie des Zusammenhangs allgemeiner als Entwicklungstheorie, wenn man den strukturellen Aspekt betont, doch letztere ist allgemeiner, wenn Strukturen als geronnene Entwicklung und Bestandteile von Zyklen untersucht werden" (Hörz 2003).

Die [...] dialektischen Beziehungen zwischen Kausalität, Wechselwirkung und Gesetz, Notwendigkeit und Zufall sind nicht ohne Berücksichtigung der Existenz objektiver dialektischer Widersprüche zu verstehen, aber sie sind zu allgemein, um die Entwicklung höherer Qualitäten in ihrer Konkretheit zu erfassen. Diese allgemeinen dialektischen Beziehungen treffen wir in allen von uns untersuchten Bereichen der objektiven Realität an. Andererseits gilt das auch für Entwicklungsprozesse. Nimmt man die Komplexität der Entwicklungsprozesse, die Strukturen und Veränderungen umfassen, dann ist die Entwicklungstheorie allgemeiner, weil sie alle Voraussetzungen natürlicher Evolution, Evolutionsprozesse und das Entwickeln zu höheren Qualitäten umfasst. Zugleich ist sie damit konkreter, weil sie den Zufall als Totalität mannigfaltiger abstrakter Bestimmungen im Entwicklungsprozess begreifen. (Hörz, Wessel 1983: 92)

Meiner Einschätzung nach unterscheiden sich die beiden Konzepte in ihrer Reflexionsrichtung, wobei dass ein "Einerseits" wie auch das "Andererseits" berechtigt sind. Herbert Hörz bewegte sich auch persönlich mit seinen Themen ausgehend von eher strukturellen Fragen "Materiestruktur" (Hörz 1971) bis zur Entwicklungsproblematik (Hörz, Wessel 1983). Damit vollzog er – wenn wir Hegelsche Verständnistypen verwenden - den Übergang von der Seins- bzw. Wesenslogik in Richtung Begriffslogik entsprechend der Dialektik, vom jeweils erkannten Mangel des Ausgangspunkts weiter voranzuschreiten. Seine Kontrahenten setzen das umfassendere Entwicklungsgeschehen immer bereits voraus und von daher erweisen sich natürlicherweise alle anderen Momente nur als abgeleitete, im Umfassenderen Enthaltene. Es ist sicher auch nicht zufällig dass Hörz einerseits aus Richtung der Fragestellung philosophischer Probleme der Physik herkommt, seine Kontrahenten dagegen die Gesellschaftstheorie bereits immer mit im Blick haben.

Tatsächlich lassen sich die historisch zuerst gestellten Fragestellungen bezüglich der Naturwissenschaften erst einmal ohne Berücksichtigung von Entwicklung diskutieren. Dies beruht auch auf dem besonderen epistemologischen Status der Naturwissenschaften, bei denen Widersprüche der Bewegung und auch die Entwicklung durch die besondere Art und Weise, Entwicklungswidersprüche so "dualisieren", dass sie logisch widerspruchsfrei behandelbare Grundgrößen werden (Borzeszkowski, Wahsner 1989). Es ist ja nicht die Natur physischer Objekte, sich nicht zu entwickeln oder Widersprüche in der Bewegung zu haben. Wenn wir nur die Resultatsform der physikalischen Wissenschaft vor uns haben, sind wir auf deren nur mangelhafte Dialektik angewiesen. Die Untersuchung der "Wissenschaft als Prozeß" (Hörz 1988) dagegen muss künftig die übergreifende Dialektik von vornherein mit berücksichtigen. Wie kommt es, dass wir aus den umfassenden kosmologischen Evolutionszusammenhängen Struktur- und Bewegungsmomente herausgreifen können, bzw. sogar müssen, um zu bestimmten Erkenntnissen zu kommen?

Hier reicht das Gegeneinander des "Einerseits" und "Andererseits" nicht mehr aus. Es ist wichtig, vor lauter Entwicklung die präzisierten Begriffsbestimmungen über Strukturen und Bewegungen nicht zu übersehen – aber diese müssen als Momente der übergreifenden Entwicklungszusammenhänge begriffen werden können.

Literatur

Borzeszkowski, Horst-Heino von; Wahsner, Renate (1989): Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Hörz, Herbert (1973): Dialektischer Determinismus und Entwicklungstheorie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 21 (1973) 3. 353-358.
Hörz, Herbert (1971): Materiestruktur. Dialektischer Materialismus und Elementarteilchenphysik. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
Hörz, Herbert (1973): Die Bedeutung statistischer Gesetze in den Gesellschaftswissenschaften. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 21 (1973) 2, S. 174-189.
Hörz, Herbert (1976): Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag.
Hörz, Herbert (1988): Wissenschaft als Prozeß. Grundlagen einer dialektischen Theorie der Wissenschaftsentwicklung. Berlin: Akademie-Verlag.
Hörz, Herbert (1996a): Determinismus. Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch. Bonn: Pahl-Rugenstein.
Hörz, Herbert (1996b): Struktur. Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch. Bonn: Pahl-Rugenstein.
Hörz, Herbert (2003): Persönliche Mitteilung an A.S.
Hörz, Herbert; Wessel, Karl-Friedrich (1983): Philosophische Entwicklungstheorie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
Horstmann, Hubert (1976): Materialistische Dialektik und Determinismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 24 (1976) 8. S. 972-985.
Max, Ingolf (1999): Struktur. Enzyklopädie Philosophie (Hrsg.v. Hans Jörg Sandkühler). Hamburg: Felix Meiner Verlag.
Schurig, Volker (1999): Entwicklung. Enzyklopädie Philosophie (Hrsg.v. Hans Jörg Sandkühler). Hamburg: Felix Meiner Verlag.
Stekeler-Weithofer, Pirmin (1999): Determinismus/Indeterminismus. Enzyklopädie Philosophie (Hrsg.v. Hans Jörg Sandkühler). Hamburg: Felix Meiner Verlag.
Stiehler, Gottfried (1973): Bemerkungen zu Problemen der Dialektik und des Determinismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 21 (1973) 3, S. 344-352.




Determinismus, Gesetzmäßigkeit und menschliches Handeln

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