Das Unbewusste
in der Kritischen Psychologie

Die Kritische Psychologie unterscheidet in ihrer Begriffsbildung und –verwendung verschiedene Gegenstandsbereiche:

  1. Psychisches und Momente des Psychischen entstehen bereits in vormenschlichen Organismen.

  2. Psychisches und seine Momente erhalten im Verlauf der Menschwerdung (Tier-Mensch-Übergangsfeld) neue Qualitäten, bzw. neue Momente entstehen.

  3. Die volle Qualität des Menschlichen ist erst dann ausgebildet, seit keine Vormenschen mehr aus biologischen Gründen (Nichtangepasstheit des Genoms) ausgestorben sind. Seitdem ist die Dominanz der biotischen Evolutionsfaktoren abgelöst worden durch die Dominanz der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprinzipien. Momente des Psychischen erhalten dadurch eine neue Qualität.

  4. Innerhalb des Menschlichen sind verschiedene Gesellschaftsformen zu unterscheiden. Die Kritische Psychologie macht Aussagen zur kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsform.

Vor der Ebene des Menschseins und auch noch bei Menschen gibt es natürlich das Nicht-Bewusste. Emotionalität ist z.B. die Bewertung von Umweltgegebenheiten am Maßstab der eigenen Befindlichkeit, und auch bei Menschen geschieht die Bewertung der kognitiv erfaßten Umweltgegebenheiten am Maßstab der subjektiven Bedeutung der kognizierten Umweltgegebenheiten und der individuellen Handlungsmöglichkeiten ihnen gegenüber nicht immer denkend bewusst.
Das Unbewusste im eigentlichen Sinne taucht erst auf der Stufe der bürgerlichen Gesellschaft Im Bereich D. Um seine Bestimmung dort zu verstehen, gehen wir erst einmal zur allgemeineren Stufe des Menschlichen zurück.

In der Menschwerdung bildet sich das gesellschaftliche Sein des Menschen heraus (in B entstehend, in C dominierend). Gesellschaftlichkeit ist (z.B. über Kooperation oder Sozialität hinaus) gekennzeichnet durch:

  • ist eigenständiger Prozess gegenüber der Phylogenese (eigene Entwicklungsgesetze...)
  • hat für die ganze Gattung (auch gegenüber Sozialverbänden) verselbständigten Charakter, überhistorisch, überindividuell, übersozialverbandlich, überkooperativ...
  • Die unmittelbare Verbindung Organismus/Sozialverband zur Umwelt ist aufgebrochen und eine Mensch-Gesellschaft-Welt-Vermittlung entsteht. "Ich bin nicht mehr direkt, unmittelbar mit der Umwelt konfrontiert, sondern mit der Gesellschaft in Ausschnitten."
  • individuelle Reproduktion erfolgt nur noch innerhalb der gesellschaftlichen Produktion/Reproduktion der Lebensgrundlagen
  • Jedes menschliche Individuum ist immer gesellschaftlich
    • d.h.: ist nicht erst nur biotisch und wird dann "sozialisiert",
    • d.h.: ist niemals isoliert, sondern Vereinzelung ist erst in Gesellschaft möglich (im Kapitalismus – siehe D - dann Vereinzelung in der warenproduzierenden Gesellschaft)
    • Die Gesellschaft steht nicht dem Einzelnen "von außen" gegenüber, oder wird durch Beziehungen zwischen ihnen "von außen" konstitiuert (Bindemitteln zwischen Isolierten), sondern sie ist in den Individuen "drin" (durch Prozess der individuellen Vergesellschaftung)
  • Ist gesamtgesellschaftlicher Reproduktionszusammenhang, "Infrastruktur", "Medium" des Handelns.
Was ändert sich auf der Ebene des Gesellschaftlichen bei anderen psychischen Momenten?

  vor Menschwerdung Menschen

Bedarf/Bedürfnis

psych. Aspekt von zustandsabhängigen inneren "Ungleichgewichten"

Bedürfnisse beziehen sich - im Unterschied zum Bedarf - von vornherein nicht lediglich auf individuelle Beziehungen zur Umwelt - sondern beziehen sich auf die kooperativ-vorsorgende Schaffung von Lebensbedingungen in der Welt.

Emotion

Bewertung von Umweltgegebenheiten am Maßstab der eigenen Befindlichkeit

Ausdruck des Verhältnisses des Individuums zu seinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen

Zu beachten ist, dass Kategorien der Kritischen Psychologie nicht davon ausgehen, dass sie psychische Merkmale oder Eigenschaften im Inneren des Organismus/Individuums beschreiben, sondern Verhältnisse, die die Dialektik der Identität von Identität und Unterschied auf jeder Stufe berücksichtigen.

Alles, was Menschen tun, um ihre individuelle Existenz und Reproduktion zu sichern, muss im gesellschaftlichen Medium erfolgen, diese gesellschaftsbezogenen Tätigkeiten werden Handlungen genannt. Die Möglichkeit des Menschen, sein eigene Existenz über die Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Prozess zu reproduzieren, wird Handlungsfähigkeit genannt. Die Handlungsfähigkeit ist wesentlich, weil ihre Erhaltung und Erweiterung das wichtigste Bedürfnis von Menschen ist.

"Nicht die >Arbeit< also solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern >Arbeit< nur soweit, wie sie dem Einzelnen Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß erlaubt, ihn also >handlungsfähig< macht. Mithin ist nicht >Arbeit<, sondern >Handlungsfähigkeit< das erste menschliche Lebensbedürfnis." (Holzkamp 1985, S. 24)

Die Gesellschaft selbst muss reproduziert werden. Gesamtgesellschaftlich durchschnittlich sind dazu bestimmte Handlungen notwendig. Durch die Unmittelbarkeitsdurchbrechnung leitet sich daraus nicht direkt die Handlungsnotwendigkeit für das einzelne Individuen ab. Für den Einzelnen sind die gesamtgesellschaftlich (notwendigen) Handlungen lediglich Handlungsmöglichkeiten. Ob und wie der Einzelne handelt, wird nicht direkt und unmittelbar vorgegeben, sondern er hat spezifische Möglichkeiten.

Bewusstsein entsteht als ">gnostische< Welt- und Selbstbeziehung, in welcher die Menschen sich zu den Bedeutungsbezügen als ihnen gegebenen Handlungsmöglichkeiten bewußt >verhalten< können, damit nicht mehr in den Erfordernissen ihrer unmittelbaren Lebenserhaltung befangen sind, sondern fähig werden, den übergreifenden Zusammenhang zwischen den individuellen Existenz- und Entwicklungsumständen und dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß verallgemeinert-vorsorgender Schaffung menschlicher Lebensmittel/-bedingungen zu erfassen. (Holzkamp 1985, S. 237).

Gesellschaftliche Notwendigkeiten werden nicht direkt zu Ursachen für menschliches Handeln, sondern individuelles Handeln ist vermittelt durch subjektive Handlungsgründe.

Bei diesen subjektiven Handlungsgründen ist in der Kritischen Psychologie folgendes vorausgesetzt:

Kein Mensch schadet sich bewusst selbst.

Subjektive begründete Handlungen können deshalb nie gegen die je eigenen Bedürfnisse und Lebensinteresse, wie das Individuum sie erfährt, gerichtet sein. Sie sind für das betroffene Individuum "subjektiv funktional".

Diese allgemeinen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Lebensbedingungen und individueller Handlungsbegründung (und ihren psychischen Folgerungen) betreffen alle Gesellschaftsformationen (D). Innerhalb der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft gibt es einige Besonderheiten. Die allgemeinen Zusammenhänge treten hier in spezifischer Weise auf. Diese Gesellschaftsform hat die Eigenart, dass ihre gesellschaftliche Verfasstheit als allgemein-menschlich-natürliche erscheint, ihre Bedingungen als unveränderbar und dass die vereinzelte Existenz der Individuen als die "natürliche" erscheint. Das, was wir als erstes Lebensbedürfnis gekennzeichnet haben, die Handlungsfähigkeit, existiert hier in zwei Formen. In der ersten wird der Schein verdoppelt, es geht um das Akzeptieren der gegebenen Bedingungen als Handlungsrahmen. Diese Handlungsfähigkeit wird restriktive Handlungsfähigkeit genannt. Aber das Menschsein ist nicht aufgehoben, es ist Menschen auch unter diesen Bedingungen möglich, die Bedingungen selbst zu hinterfragen, den Schein aufzuheben und über die gegebenen (bürgerlich-kapitalistischen) Bedingungen hinaus die Verfügungsmöglichkeiten zu erweitern streben. Die zweite Form wird verallgemeinerte Handlungsfähigkeit genannt. Diese beiden Möglichkeiten sollen nicht in der Weise bewertet werden, dass die eine schlechter und die andere besser wäre. Es ist zu beachten, dass beide Varianten für die einzelnen Menschen subjektiv funktional und damit wohl begründet sein können. Die Kritische Psychologie zielt jedoch bewusst darauf ab, wenigstens die Wahlmöglichkeit bewusst zu machen, denn die zuerst genannte restriktive Handlungsfähigkeit ist durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform und ihre scheinhafte Natürlichkeit nahegelegt – die zweite bedarf einer zusätzlichen Anstrengung.

Kommen wir nun zum Unbewussten:

Das Unbewusste entsteht unter kapitalistisch-bürgerlichen Bedingungen im Rahmen der restriktiven Handlungsfähigkeit. Da die Erweiterung der Handlungsfähigkeit risikovoll ist, kann es subjektiv funktional sein, die bestehende Handlungsfähigkeit wenigstens zu erhalten. Das bedeutet, nur innerhalb der gegebenen Bedingungen zu handeln. Die gegebenen Bedingungen jedoch stellen die Menschen grundsätzlich in ein Konkurrenzverhältnis. Je ich kann deshalb meine Interessen nur realisieren, wenn ich sie gegen andere durchsetze. Ich kann meine Handlungsfähigkeit nur erhalten, wenn ich anderen und auch meinen Bedürfnissen nach Erweiterung der Handlungsfähigkeit (zumindest langfristig) schade. Indem ich so handle, reproduziere ich gerade jene Strukturen, die mir schaden, unter denen ich selbst leide. Auf diese Weise werde ich mir selbst zum Feind – Selbstfeindschaft entsteht. Unter der oben genannten Voraussetzung, dass ich mir nicht bewusst schaden kann, muss dieser Zusammenhang vor mir selbst verborgen werden. Ich schiebe das Bewusstsein davon weg, verdränge es. Auf diese Weise entsteht durch das "Resultat der Unterdrückung des >besseren Wissens< durch das Subjekt" (Holzkamp: 397) das "Unbewusste". Es ist somit das "Implikat der subjektiven Begründetheit und Funktionalität eines Handlungsrahmens, der sich der >Rationalität< der Herrschenden, letztlich des Kapitals, unterwirft, wobei gerade dadurch, dass das Individuum in diesem Rahmen >rational< handelt, es sich selbst zum Feinde werden muß" (Holzkamp: 381)

Eine Methode, dieses Unbewusste oder wenigstens Halbbewusste bewusst zu machen, erarbeitete Frigga Haug mit ihrer Methode der "Erinnerungsarbeit" (Haug 1990). Auch hier ist der Ausgangspunkt, dass es für Menschen unter den gegebenen Bedingungen sinnvoll ist, die Vorstellung von sich selbst so zu "bauen", dass wir die Verhältnisse in uns einbauen (Haug 1983: 34). Das bedeutet konkret, dass wir zum einen dazu neigen, uns als Opfer der Verhältnisse zu sehen und die Möglichkeiten, wo wir uns hätten anders verhalten können, ausblenden aus unserer Erinnerung. Zum anderen wollen wir aber vor allem gut von uns denken und stellen uns gern als selbstbewusst und aktiv die Widrigkeiten meisternd vor. Jeweils wird eine Seite des widersprüchlichen Lebens zwischen Anpassung und Widerstand ausgeblendet. "Im tiefsten Inneren" haben wir aber die gelebten Widersprüche in uns, aber oft eben nicht offen bewusst. In der Erinnerungsarbeit nach Frigga Haug geht es nun darum, sich dieser Brüche bewusst zu werden und die "Erinnerung zur Befreiung zu nutzen" (Haug 1982: 49). In der von ihr dazu entwickelten (jederzeit veränderbaren) Methode wird mit aufgeschriebenen Erinnerungsszenen in einem Kollektiv gearbeitet und dabei im Text die jeweiligen sprachlichen Verdeckungen aufgedeckt, so dass die Beteiligten erschließen können, wo die Ansatzpunkte für die Berücksichtigung der vorher ausgeblendete Seite gesteckt haben und stecken. Es ist faszinierend, wie stark in den Auswertungen sich die Aussagen zur ersten Frage: "Was wollte die Autorin in ihrem Text sagen?" und der Aussage nach der Textauswertung "Was bedeutet diese Szene, nachdem wir sie entschlüsselt haben?" unterscheiden. Die Differenz ist das vorher nur halb Gewusste, nun ins Bewusstsein Gehobene.

Literatur:
Haug, Frigga (1983): Streitfragen. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 32-41.
Haug, Frigga (1990): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag.
Holzkamp, Klaus (1983, 1985): Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main, New York.

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