(Abb.von Ausg.1995)

Gelesen:

Gerhard Lenz, Gisela Osterhold, Heiner Ellebracht: Erstarrte Beziehungen - heilendes Chaos
Einführung in die systemische Paartherapie und -beratung

Freiburg, Basel, Wien: Verlag Herder, 1995, Neuherausgabe 2000.

Dieses Buch ist eigentlich gerichtet an psychologische BeraterInnen und TherapeutInnen, die die Grundlagen der systemischen Paartherapie kennen lernen wollen. Die Thematik berührt jedoch alltägliche Fragestellungen und Probleme des Umgangs von Menschen miteinander, die wir alle kennen, erleben und gestalten.
Die methodische Grundlage des hier vorgestellten Beratungs- und Therapiekonzepts sind neuere Systemtheorien. Menschliches Verhalten erzeugt in seinen Wechselbeziehungen (psychosoziale, kommunikative) Systeme, deren Struktur selbst wieder zurückwirkt auf das Verhalten der Einzelnen. Beratung und Therapie setzen an diesen intrapersonellen (nicht gesamtgesellschaftlichen) systemischen Strukturen an, sie sehen das Verhalten des Einzelnen nicht eindeutig determiniert, aber doch stark bestimmt von seiner Einbindung in die (von ihm selbst mit erzeugten) Strukturen. Dadurch entsteht z.B. eine starke Entlastung der beteiligten Personen, weil alle personifizierenden Schuldzuweisungen entfallen. Niemals ist eine/r der Beteiligten "schuld" an etwas - es geht immer nur darum, die Strukturen zu erkennen und ggf. zu verändern. Es wir auch mehrmals darauf hingewiesen (S. 147, 170), dass es darauf ankommt, niemandem feste Eigenschaften zuzuschreiben, sondern ggf. sein Verhalten zu thematisieren. Eigenschaftszuschreibungen kleben wie Etiketten an der Person, verdinglichen und lassen erstarren. Verhaltensweisen dagegen können mehr oder weniger bewußt ausgewählt werden; hier können Veränderungen ansetzen.
Die in der Psychotherapie zugrunde gelegten Systemtheorien versuchen nicht, wie man sich vielleicht mit frühen Kybernetikmodellen vorstellen könnte, Sollzustände festzulegen und das Verhalten der Betroffenen darauf hin zu steuern oder einzuregeln. Neue Erkenntnisse der "Systemtheorien 2. Ordnung", die in den systemischen Psychotherapien eine Rolle spielen, sind:
  • Unsere "Wirklichkeit" ist kein Abbild der "Welt da draußen". Reize aus der Umwelt schreiben sich nicht in unser Gehirn ein, sondern unser Gehirn wählt selbst aus, welche Umwelteinflüsse es wie einwirken läßt. Primär ist die gehirneigene Aktivität, die durch Sinneseindrücke modifiziert werden kann. Die Inhalte unseres Gehirns sind keine Abbilder der Außenwelt, sondern selbst erzeugte Muster, die die Wahrnehmung beeinflussen. Deutlich wird das beispielsweise an den sog. "Kippbildern" (S. 27-30), bei denen entweder Hase oder Ente als Muster entziffert wird. Auch in den Kommunikationen unserer sozialen Beziehungen ist unsere innere Einstellung maßgeblich bei der Entscheidung darüber, was uns die Information "von außen" bedeutet. Dadurch erklärt sich die enorme Stabilität von Weltbildern und Glaubenssystemen (was nicht nur negativ gemeint ist, sondern Grundlage die im Leben notwendige Vertrautheit und Vorhersagbarkeit darstellt). Auch die Deutung des Verhaltens anderer uns gegenüber läuft in diesen Mustern ab. Die AutorInnen zitieren Maturana und Varela (S. 94, aus "Der Baum der Erkenntnis...", S. 212):
    "Unsere Erörterung hat uns zu der Folgerung geführt, daß es, biologisch gesehen, in der Kommunikation keine "übertragene Information" gibt.... Jede Person sagt, was sie sagt und hört, was sie hört, gemäß ihrer eigenen Strukturdeterminiertheit; daß etwas gesagt wird, garantiert nicht, daß es auch gehört wird. Aus der Perspektive eines Beobachters gibt es in einer kommunikativen Interaktion immer Mehrdeutigkeit. Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht."
  • Wenn ein Therapeut mit einem Paar arbeitet, ist er trotz aller Bemühung um "Allparteilichkeit" beteiligt an dem Prozess des Paares, er interveniert ja bewußt. Dass dieses Mitbeteiligtsein, also die Unmöglichkeit des "unbeteiligten Beobachtertums" in die Betrachtung mit einbezogen wird, ist typisch für die "Kybernetik 2. Ordnung" nach Heinz v. Foerster (S. 42ff.). Im Therapieprozess wird dies berücksichtigt, indem weitere Therapeuten als Beobachter dieses Prozesses einbezogen werden. Das AutorInnenteam arbeitet auch teilweise als "Reflecting Team" (S. 105), bei dem die Klienten den Beratungsprozess der TherapeutInnen miterleben.
Die neueren Systemtheorien orientieren sich nicht an Gleichgewichtszuständen, sondern gehen von der Normalität des Nichtgleichgewichts aus, und nutzen die neuen Kenntnisse aus Selbstorganisations- und Chaostheorien (vgl. S. 30ff.). Lenz, Osterhold und Ellebracht berücksichtigen sie auf folgende Weise:
  • Selbstorganisation bedeutet: Neue Strukturen entstehen an kritischen Punkten, aber so, dass vorher die neu entwickelte Struktur nicht vorhersagbar ist ("Schmetterlingseffekt" am Bifurkationspunkt). Sozialpsychologische Strukturen können sich "eingraben" in die Verhaltensmuster der Beteiligten ("Attraktor"). Wenn sie zu Problemem führen, sollten sie verändert werden (am Bifurkationspunkt). Therapeuten können diesen Veränderungsprozess aber nicht steuern. Die Erzeugung neuer Strukturen kann nur angeregt werden, welche neuen Strukturen entstehen, kann kein Therapeut vorgeben, sondern das entwickeln die Betroffenen jeweils für sich selbst. Daraus ergibt sich als Arbeitsweise, "daß wir Strukturen schaffen, die den Kontext für Veränderungen ermöglichen, aber die Art der Veränderung nicht vorgeben" (S. 20)
In ihren Beispielen therapeutischer Intervention erläutern die AutorInnen einige Mittel ihrer Intervention, die diesen neuen Erkenntnissen gerecht werden:
  • Unterlassensintervention: Die Beteiligten werden aufgefordert, jene gegenseitigen Reaktionen, die als problematisch festgestellt wurden, für eine gewisse Zeit bewußt zu unterlassen (Regeländerung). Der gewohnte "Attraktor" wird verlassen. Was dann passiert, ist offen... (vgl. S. 34f.)
  • Die Unterlassung erzeugt Verwirrung, ggf. auch Leere. Diese erleichtert das kreative Entwickeln neuer Muster (S. 36). Ohne diese Irritationen geht es nicht - ein Erfolg ist nicht garantiert.
Damit ist die Fülle der von den AutorInnen vorgestellten Konzepte natürlich nicht ausgeschöpft, ich möchte niemandem die eigene Lektüre und Auswahl der für ihn wesentlichen Erkenntnisse vorenthalten, sondern nachdrücklich empfehlen. Speziell wird auf die Suchtproblematik und die Symtombeschreibung "Schizophrenie" näher eingegangen. Zusammenfassend beschreibt sich das Konzept der AutorInnen:
"Psychotherapie ist Induktion von Veränderung sowie Begleitung und Hilfe bei der Stabilisierung des neuen Zustands." (S. 113)
Der Umgang mit den beteiligten Personen ist einerseits davon bestimmt, dass sie Kunden sind, andererseits wird innerhalb der psychotherapeutischen Intervention stark darauf geachtet, sie als Subjekte ihres Lebens ernst zu nehmen und nicht zu versuchen, sie fremdzubestimmen.
Beispielsweise ist es nicht von vornherein das Ziel der Paartherapie, das Paar zusammenzuhalten oder zu bringen, sondern was die Menschen für sich entscheiden, bleibt ihre Entscheidung. Auch eine Trennung, die die Betroffenen nicht weiter verletzt, ist in Ordnung.
Bezogen auf als krankhaft bezeichnete psychische Zustände wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass jedes Symptom selbst eine Lösung unter den bisher gegebenen Bedingungen darstellt (S. 113), Holzkamp würde von der "subjektiven Funktionalität" dieser Verhaltensweise sprechen. Auch bei den Anwendungsfeldern "Sucht" (S. 167) , "Zwangssymptomatiken" (S. 177) und der "sogenannten Schizophrenie" (S. 185) wird besonderer Wert darauf gelegt, sich nicht einfach dem aburteilenden "Definionsbündnis von Symptomträger, Angehörigen und TherapeutInnen" zu unterwerfen (S. 187), sondern es aufzubrechen, danach zu suchen, "inwiefern das absurde Verhalten Sinn machen könnte" (S. 191) und inwieweit z.B. die "schizophrene Symptomatik als normale, dem Kontext und den Lebensbedingungen der Beteiligten angemessene Krisenbewältigungsreaktion" (ebd.) zu verstehen sein kann.

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