Marxismus

Karl Marx (1818 – 1883) und Friedrich Engels (1820 – 1895) sind abstrakte Spekulationen über das "Wesen des Menschen" fremd. Hilfreich zur Bestimmung dessen, was Menschen z.B. von früheren Lebensformen unterscheidet ist die Betrachtung der Prozesse, die schließlich zum Herauslösen, zur Entwicklung von etwas ganz Besonderem, nur dem Menschen Eigenen führte. "Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie fangen an, sich von den Tieren zu unterschieden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren..." (Marx, Engels 1845-46, S. 21). Während Tiere lediglich ihre Umwelt benutzen, um ihr Leben zu reproduzieren, verändern Menschen diese Umwelt bewusst und planmäßig – beginnend mit der Herstellung von Werkzeugen, die sie nicht nur einmal verwenden, sondern "für andere" oder "für später" aufbewahren, sich also von den unmittelbaren Bedarfsbefriedigungen ("Hunger jetzt – Banane jetzt her") emanzipieren und zu einer (bewusst, nicht nur instinktiv) vorsorgenden Gestaltung ihrer Umwelt kommen. Insofern ist das Wesen der wirklichen Menschen immer mit konkreten Naturprozesse verbunden, nie von ihnen losgelöst, ihnen enthoben.

Zur Ergänzung möchte ich hier noch die schöne Eingangspassage des Abiturientenaufsatzes von Karl Marx über die "Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes" zitieren:

"Dem Tiere hat die Natur selber den Wirkungskreis bestimmt, in welchem es sich bewegen soll, und ruhig vollendet es denselben, ohne über ihn hinauszustreben, ohne auch nur einen anderen zu ahnen. Auch dem Menschen gab die Gottheit ein allgemeines Ziel, die Menschheit und sich zu veredlen, aber sie überließ es ihm selber, die Mittel aufzusuchen, durch welche er es erringen kann; sie überließ es ihm, den Standpunkt der Gesellschaft zu wählen, der ihm am angemessensten ist, von welchem aus er sich und die Gesellschaft am besten erheben kann.

Diese Wahl ist ein großes Vorrecht vor den übrigen Wesen der Schöpfung, aber zugleich eine Tat, die sein ganzes Leben zu vernichten, alle seine Pläne zu vereiteln, ihn unglücklich zu machen vermag" (Marx 1835, S. 591).

Bereits in einem frühen Brief ärgert sich Engels bei Feuerbach über abstrakte Definitionen dessen, was "der Mensch" sei: "Wir müssen vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen, um ... uns von da aus zu "dem Menschen" zu erheben..." (Engels 1844, S. 12). Dieser empirische, individuelle Mensch war für Marx und Engels nun weniger aus psychologischer Sicht interessant, sondern in seinen ökonomischen Beziehungen, in der Gesellschaft. Trotzdem blieb explizit das Individuum im Zentrum des Interesses: "Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen... sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie durch ihre eigne Aktion erzeugten" (Marx, Engels 1845-46, S. 20). Auch später, 1957 bleiben "in Gesellschaft produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ... natürlich der Ausgangspunkt" (Marx 1857, S. 19).

Marxens gesellschaftliches Engagement bezog sich durchaus primär auf die Freiheiten der Einzelnen, die er durch gesellschaftliche Umstände eingeschränkt sieht. Nicht nur eingeschränkt, sondern geradezu als verkehrt erkennt Marx das Wesen des Menschen unter entfremdenden Bedingungen: "Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewusstes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht" (Marx 1844, S. 516). Deshalb konzentriert er sich in seiner weiteren Arbeit vorwiegend auf die Analyse und Kritik dieser entfremdenden gesellschaftlichen Umstände.

Auch die Gesellschaftsanalyse wird noch vom Individuum her begonnen: "Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein" (Marx, Engels 1845-46, S. 25). Diese Verhältnisse "bedingen" wiederum die wirklichen Menschen (ebd., S. 26). Diese Bedingtheit der Menschen erfasst auch ihr Bewusstsein: "Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein" (ebd.).

Bild 13: Marx

Ob dieses Sein nur das handgreiflich Gegebene erfasst, oder Möglichkeiten für Neues, Noch-nicht-Vorhandenes, das eben auch im Bewusstsein vor-scheinen kann, wird hier offen gelassen. Die Vertreter des "Kältestroms des Marxismus", wie Ernst Bloch es nennt, verneinen dies und sehen die Menschen eher deterministisch von den Umständen bestimmt. Das bis 1989 in der DDR aktuelle "Philosophische Wörterbuch" spricht den Menschen (im Stichwort "Mensch", siehe Heyden 1976) niemals als Subjekt (d.h. mindestens als Produzenten seiner Lebens- und gesellschaftlichen Bedingungen) an, sondern immer nur als "Produkt". Marx selbst betonte noch: "Es ist zu vermeiden, die "Gesellschaft" wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren" (Marx 1844, S. 538). Daß freie Individualität für den Einzelnen nicht in Isolation von anderen Menschen zu erreichen ist, setzt er dabei voraus. "Die Natur des Menschen (ist) so eingerichtet..., daß er seine Vervollkommnung nur erreichen kann, wenn er für die Vollendung, für das Wohl seiner Mitwelt wirkt", schreibt er ebenfalls bereits in seinem Abituraufsatz (Marx 1835, S. 594).

Alle späteren Vertreter des "Wärmestroms des Marxismus", die das Mögliche, das aufscheinend Neue, das konkret Utopische gegenüber dem Faktischen bevorzugen, wie Ernst Bloch, wurden praktisch aus dem geistigen Leben der DDR ausgeschieden. Der Vorwurf des Idealismus oder der Missachtung des Primats des Materiellen wirkte hier bis zuletzt in der Selbst- und Fremdzensur als Waffe.

Beide Strömungen fußen jedoch auf originär auf Marx, indem sie das Menschliche konkret-historisch betrachten.

Gegen Ende der DDR – 1985 - führte der Bedarf an Untersuchungen zur "fortwährenden Entfaltung der Universalität des Menschen" (Wessel 1988, S. 97) zur Gründung eines interdisziplinären Projektes "Biopsychosoziale Einheit Mensch – Struktur und Dynamik der Ontogenese des Menschen". Bis dahin wurde besonders das Verhältnis von biologischen und sozialen Faktoren bei der Entwicklung des Menschen untersucht. Die Psychologie sollte nun stärker hinzugefügt werden. Der Mensch als Subjekt war damit aber nicht gefragt – es ging weiterhin um ihn als Objekt von Determinierungen, allerdings nun in ihrer "komplexen Struktur" (ebd., S. 99). Die Orientierung aufs Individuum erfolgte durch die "Humanontogenetik" – die zwar behauptet, sich von einer biologistischen Bestimmung zu entfernen – aber die wirklichen Beziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft nie wirklich in den Blick nahm. Umfassender – aber auch abstrakter – wurde von Herbert Hörz in einem Beitrag menschliches Verhalten als sich selbst organisierendes Verhalten diskutiert und festgestellt:

"Menschen sind Natur- und Vernunftwesen, Gestaltungs- und Sozialwesen, die in der Lage sind, durch gesellschaftliche Bedingungen und ihre revolutionäre Veränderung bestimmt, ihre Existenzbedingungen effektiver und humaner zu gestalten" (Hörz 1989, S. 41).

Praxisphilosophie

Einerseits ist das Wesen jedes konkreten Menschen etwas geschichtlich Gewordenes – andererseits steht es immer im Werden, ist nie fertig. Marx sprach noch von "Vollendung" – scheinbar abschließbar. Implizit ist jedoch seine Gesellschaft und jeder Mensch nie ein fertiges Ding, sondern ein Prozess. Die menschliche Welt ist Praxis. In ihr fallen die Änderung der Umstände und die Selbstveränderung zusammen (siehe 3. Feuerbachthese in Marx 1845, S. 6).

Gegenüber dem Versuch, aus der kritischen Intention Marxens eine positive, objektivistische Theorie zu machen, entwickelte Antonio Labriola (1843-1904) den Ansatz einer "Philosophie der Praxis". Nach einer Weiterentwicklung durch Antonio Gramsci (1891-1937) wurde diese Richtung vor allem in Jugoslawien weiter betrieben.

Gajo Petrović als Hauptvertreter dieser Strömung definiert menschliches Sein und Wesen als Praxis: "Diese dem Menschen eigene Art des Seins bezeichnet Marx mit dem Wort "Praxis".

Der Mensch ist für Marx das Wesen der Praxis" (zit. in Flego, S. 75).

Diese Praxis wird zum Grundbegriff des ganzen theoretischen Konzepts – dadurch wird die im "Marxismus-Leninismus" übliche Hauptfrage, ob das Primat der vom Bewusstsein unabhängigen Materie anerkannt wird, umgangen. Während im "ML" die Materie sich nicht nur als erkenntnistheoretischer Begriff, wie ihm Lenin verstanden haben wollte, sondern als ontologische Entität allem anderen voraussetzte und ihre Gesetze anscheinend allem praktischen Tun gegenüber vorgängig betrachtet wurden – betonte die Orientierung auf Praxis eine grundsätzliche Unabgeschlossenheit und Gestaltungsfähigkeit der Welt. Diese Unabgeschlossenheit wird nicht, wie bei Ernst Bloch und in anderen dialektischen Naturkonzepten, schon der vor- und außermenschlichen Natur zugesprochen, sondern explizit nur für das menschliche Sein diskutiert. Menschliches Sein wird bestimmt durch freie, schöpferische Tätigkeit, durch die der Mensch seine Welt und sich selbst schafft (Petrović, zit. in Müller 1986). Typisch für den Menschen ist dabei, daß er immer Neues schafft. Deshalb ist nicht nur der sich ständig selbst reproduzierende Prozeß "Praxis" für den Menschen wesentlich, sondern die qualitativ Neues schaffende Revolution. In dieser Zukunftsträchtigkeit wird auch das Bedeutsame der Historizität des Menschlichen gesehen. Nicht nur, was sich in der Vergangenheit entwickelt hat, bestimmt das Wesen des Menschen jetzt, sondern: "Das Wesen des Menschen ist nicht das, was er schon ist, sondern das, was er noch werden kann" (Flego 1995, S. 75). Diese sehr fortschrittsbezogene Auffassung muß heute ergänzt werden durch eine kritische Thematisierung der Einbettung dieses möglichen Fortschritts (soziale, ökologische Aspekte, kein Selbstlauf des "Fortschritts" gegenüber individuellen Selbstentfaltungsbedürfnissen). Aber egal in welche Richtung, auch nach Ernst Bloch ist "der Mensch...invariant gerade als das sich ... stets überschreitende Wesen" (Bloch 1936/1985, S. 261). Die Betonung des Neuen führt bei Petrović später auch dazu, nicht mehr ”Praxis” als Grundbegriff seines Konzepts zu verwenden, sondern “Revolution".

Auch bei Marx war eine solche Sicht bereits unterstellt, denn menschliches Wesen könnte nicht entfremdet erscheinen, wenn es "in Wirklichkeit" (wobei das Mögliche im Wirklichen gegenüber dem faktisch Gegebenen das Bedeutsamste ist) nicht das Gegebene potentiell überschritte in seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten.


Literatur und Bildnachweis

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