Aus Kierkegaards Schrift "Entweder-Oder"

Die Menschen sind doch unverständig. Von den Freiheiten, die sie besitzen, machen sie nie Gebrauch, fordern aber die, welche sie nicht besitzen. Denkfreiheit haben sie: sie fordern Redefreiheit. (EO: 18)

Die meisten Menschen laufen so heftig dem Genusse nach, daß sie an ihm vorbeilaufen. Es geht ihnen, wie es jenem Zwerge ging, der eine entführte Prinzessin in seinem Schlosse bewachte. Eines Tages erlaubte er sich einen Mittagsschlaf. Als er eine Stunde darauf erwachte, war sie davon. Rasch zog er seine Siebenmeilenstiefel an: mit einem Schritte war er weit an ihr vorbei. (EO: 28-29)

Ich sage von meinem Kummer, was der Engländer von seinem Hause sagt: Mein Kummer is my castle. Manche Menschen betrachten dies, daß sie einen Kummer haben, als eine der Einrichtungen in Haus und Leben, ohne welche ihnen nicht wohl wäre. (EO: 20)

In einem Schauspielhause geschah es, daß die Kulissen Feuer fingen; der Bajazzo trat vor, um das Publikum davon zu benachrichtigen. Man glaubte, es sei ein Witz, und applaudierte. Er wiederholte die Anzeige: man jubelte noch lauter. So, denke ich, wird die Welt unter allgemeinem Jubel witziger Köpfe zu Grunde gehen, die da glauben, es sei ein Witz. (EO: 30-31)

Der Müßiggang ist also durchaus nicht die Wurzel des Übels, sondern viel eher das wahrhaft Gute. ... Es gibt eine unermüdliche Thätigkeit, welche einen Menschen von der Welt des Geistes ausschließt und ihn in die Klasse der Tiere versetzt, die instinktmäßig immer in Bewegung sein müssen. So gibt es auch Menschen, die eine außerordentliche Gabe haben, alles in ein Geschäft zu verwandeln; ihr ganzes Leben ist ein Geschäft, sie verlieben sich und heiraten, sie hören einen guten Witz und bewundern klassische Musik mit demselben Geschäftseifer, mit welchem sie im Kontor arbeiten. (EO: 228)

Also bin ich nicht der Herr meines Lebens; ich bin mit einer der Fäden, die in den Kattun des Lebens hineingesponnen werden sollen! Nun immerhin: kann ich auch nicht spinnen, so kann ich den Faden doch durchschneiden. (EO: 31)

Die Erfahrung hat bewiesen, daß es der Philosophie keineswegs so schwer ist, anzufangen. Weit entfernt: sie fängt ja an mit nichts, und kann also immer anfangen. Was dagegen der Philosophie und den Philosophen schwer fällt, ist aufzuhören. (EO: 41)

Ich nehme nun an, daß die Philosophie recht hat, daß der Grundsatz des Widerspruchs wirklich aufgehoben ist, oder daß die Philosophen ihn jeden Augenblick in der höhern Einheit des Gedankens aufheben. Das kann ja aber nicht von der zukünftigen Zeit gelten; denn die Gegensätze müssen doch erst dagewesen sein, ehe ich sie mediieren kann. Ist aber der Gegensatz da, dann auch ein Entweder - Oder. Die Philosophie sagt: So ist es bisher gewesen; ich frage: Was habe ich zu thun, wenn ich kein Philosoph sein will? Wäre ich ein Philosoph, ja, dann würde ich die vergangene Zeit mediieren. (EO: 466-467)

Ich wende mich in aller Ehrfurcht an die Männer dieser Wissenschaft [Philosophie], um zu erfahren, was ich zu thun habe. Ich erhalte jedoch keine Antwort; denn die Philosophie mediiert das Vergangene und lebt in demselben. Für die Philosophie ist die Weltgeschichte abgeschlossen. (EO: 467)

Wie, wenn ich nun in ihrem Namen die Philosophie fragte, was ein Mensch im Leben zu thun habe? Du lächelst, und doch meine ich, es ist in Wahrheit eine furchtbare Anklage wider sie, wenn sie darauf nicht antworten kann. (EO: 467)

Mit dem, was man die innere That nennen könnte, hat die Philosophie gar nichts zu thun; aber die innere That ist das wahre Leben der Freiheit. (EO: 469)

Ein guter Mensch kann jeder sein, der es will, um aber böse zu sein, muß man Talent haben. Deshalb wollen viele für ihr Leben gern Philosophen sein, aber keine Christen, denn ein Philosoph muß Talent haben, ein Christ braucht nur Demut, und die kann jeder haben, der es will! (EO: 521)

Selbst der einfachste und gewöhnlichste Mensch hat also eine Doppelexistenz. Auch er hat eine Geschichte, und diese ist nicht nur ein Produkt seiner eignen freien Handlungen. Die innere That dagegen gehört ihm selber und wird ihm für alle Ewigkeit gehören; die kann die Geschichte ihm nicht nehmen, sie folgt ihm nach, sei es zur Freude, sei es zum Schmerz. In dieser Welt herrscht ein absolutes Entweder - Oder; aber mit ihr hat die Philosophie nichts zu thun. (EO: 469)

Ja, wäre mein Sohn jetzt in dem Alter, daß er mich recht verstehen könnte, und es wäre meine letzte Stunde gekommen, so würde ich ihm sagen: Ich hinterlasse dir kein Vermögen, keinen Titel und keine hohe Würden; aber ich weiß, wo ein Schatz begraben liegt, der dich reicher machen kann als die ganze Welt, und dieser Schatz gehört dir; er liegt in deinem eignen Innern; es ist ein Entweder - Oder, das einen Menschen hoch über die Engel erhebt. (EO: 469-470)

Du bist nämlich nichts, bist stets nur im Verhältnis zu andern, und was Du bist, das bist Du durch dieses Verhältnis. (EO: 457)

Ich habe Menschen kennen gelernt, die so lange andre betrogen, daß ihr wahres Wesen sich schließlich nicht mehr offenbaren konnte. Wer sich aber nicht offenbaren kann, der kann auch nicht lieben, und wer nicht lieben kann, der ist der unglücklichste unter allen Menschen. (EO: 458)

Die Wahl selber ist für den Inhalt der Persönlichkeit entscheidend; durch die Wahl sinkt sie in das Gewählte hinab, und wenn sie nicht wählt, stirbt sie an Auszehrung. (EO: 460)

Bei einer Wahl kommt es nicht so sehr darauf an, daß man das Rechte wählt, sondern auf die Energie, auf den Ernst, auf das Pathos, mit welchem man wählt. (EO: 463)

Es kommt in einem menschlichen Leben ein Augenblick, wo die Unmittelbarkeit gewissermaßen gereift ist und der Geist eine höhere Form haben will, wo er sich selber als Geist erfassen will. Als unmittelbarer Geist hängt der Mensch mit dem ganzen irdischen Leben zusammen; nun aber will der Geist sich aus dieser Zerstreutheit sammeln und sich in sich selber erklären. Die Persönlichkeit will sich ihrer selbst im ihrer ewigen Gültigkeit bewußt werden. Geschieht das nun nicht, wird die Bewegung aufgehalten oder zurückgedrängt, so tritt die Schwermut ein. Es liegt in derselben etwas gar Unerklärliches. Wer einen Schmerz oder einen Kummer in seinem Herzen trägt, der weiß, was ihn drückt; fragst Du aber einen Schwermütigen, so wird er Dir antworten: Ich weiß es nicht, ich kann's nicht erklären. Darin liegt die Unendlichkeit der Schwermut. Die Antwort ist ganz richtig; denn sobald er es weiß, ist sie auch gehoben, während das Leid noch keineswegs dadurch, daß man es kennt, verschwindet. (EO: 480)

Du haßt die unruhige Thätigkeit des Lebens, sehr richtig; denn damit dieselbe einen Sinn hat, muß das Leben Kontinuität haben, und die fehlt Deinem Leben. Du beschäftigst Dich mit Deinen Studien, das ist wahr, Du bist sogar fleißig; aber Du arbeitest nur für dich selber, und alles ist so wenig teleologisch wie möglich. Im übrigen bist Du müßig, stehst müßig am Markte, wie jene Arbeiter im Evangelium; mit den Händen in der Tasche betrachtest Du das Leben. (EO: 780)

Seine Seele ist wie ein Acker, auf welchem allerlei Kräuter wachsen, die alle Wachstum und Gedeihen haben wollen, sein Selbst liegt in dieser Mannigfaltigkeit, und er hat kein Selbst, das höher als dieses wäre. (EO: 518-519)

So wähle die Verzweiflung, denn die Verzweiflung selber ist eine Wahl; man kann zweifeln, ohne es zu wählen, nicht aber verzweifeln. Und indem man verzweifelt, wählt man wieder; und was wählt man da? Man wählt sich selber, nicht in seiner Unmittelbarkeit, nicht als dieses zufällige Individuum, sondern man wählt sich selber in seiner ewigen Gültigkeit. (EO: 503)

Verzweiflung ist gerade ein Ausdruck für die ganze Persönlichkeit, der Zweifel nur für die Sphäre des Denkens. (EO: 505)

Sieh, deshalb wird es den Menschen so sauer, sich selber zu wählen, weil hier die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil man, solange man sich noch nicht selber gewählt hat, immer noch etwas andres werden kann, entweder auf diese oder auf jene Weise. (EO: 510)

Das Ästhetische - sagte ich - ist im Menschen das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische aber das, wodurch ein Mensch wird, was er wird. (EO: 518)

Je höher ein Individuum steht, um so mehr Differenzen hat es vernichtet, um so häufiger ist es verzweifelt gewesen, aber es behält immer eine Differenz übrig, die es nicht vernichten will, in der es sein Leben hat. (EO: 522)

Darin liegt nämlich eines Menschen ewiger Wert, dass er eine Geschichte haben kann; darin liegt das Göttliche desselben, daß er, wenn er will, dieser Geschichte selbst eine Kontinuität geben kann; denn diese letztere findet die Geschichte erst, wenn sie nicht nur das alles, was geschehen und mir geschehen ist, in sich schließt, sondern wenn sie meine eigne That ist, also daß selbst das, was mir begegnet ist, durch mich Verwandelt und aus der Notwendigkeit in die Freiheit hinübergeführt wird. (EO: 544)

Daher die krankhafte Angst, mit welcher viele Menschen davon sprechen, es sei so schrecklich, wenn man nicht seinen Platz in der Welt gefunden habe. Wer will's leugnen, daß es gar schön ist, wenn man da wirklich einen glücklichen Griff gethan hat; aber eine solche Angst deutet immer darauf hin, daß das Individuum alles vom Platze, nichts von sich selber erwartet. Auch wer ethisch lebt, wird suchen, daß er seinen Platz richtig wähle; merkt er indessen, daß er sich geirrt hat, oder daß sich Hindernisse erheben, die nicht in seiner Macht stehen, so verliert er den Mut nicht; denn die Souveränität über sich selber gibt er nicht auf. (EO: 546)

Wer ethisch lebt, weiß, daß er sich in den unbedeutendsten Lebensverhältnissen und durch sie selber bilden und in ihnen mehr erleben kann, als wer Zeuge merkwürdiger Begebenheiten gewesen ist oder gar selber in dieselben eingegriffen hat. (EO: 547)

Wer ethisch lebt, hat immer einen Ausweg, wenn sich alles wider ihn verschwört, wenn dunkle Wolken ihn so verhüllen, daß selbst sein Nachbar ihn nicht sehen kann, er geht doch nicht unter, es bleibt immer ein Punkt, an dem er festhält, und das ist - er selber. (EO: 547)

Wer ethisch lebt, hat sich selber gesehen, kennt sich selber, durchdringt mit seinem Bewußtsein seine ganze Konkretion, läßt unbestimmte Gedanken nicht in seinem Geiste umherschwärmen und läßt sich nicht von versucherischen Möglichkeiten zerstreuen - er kennt sich selber. (EO: 553)

Und darauf kommt es ja bei der Erziehung an, nicht daß ein Kind dieses oder jenes lernt, sondern daß der Geist heranreift, die Energie geweckt wird. (EO: 562)

Sobald ein Talent nicht als ein Beruf aufgefaßt wird - und sobald es als ein Beruf aufgefaßt wird, hat jeder Mensch einen Beruf - ist dasselbe absolut egoistisch. (EO: 586)

Das Ethische ... lehrt uns, das Zufällige nicht zu unterschätzen oder das Glück zu vergöttern. Es lehrt uns, im Glück fröhlich sein. Selbst das ist dem Ästhetiker nicht möglich; denn das Glück nur als solches ist eine unendliche Relativität; es lehrt uns auch im Unglück fröhlich und getrost bleiben. (EO: 616)

Das Weib erklärt die Endlichkeit, der Mann jagt der Unendlichkeit nach. So soll es sein, und jeder hat seinen Schmerz; denn das Weib gebiert mit Schmerzen Kinder, aber der Mann empfängt die Ideen mit Schmerzen, und das Weib soll nicht die Angst des Zweifels und die Qual der Verzweiflung kennen, sie soll nicht ohne Ideen sein, aber sie hat sie aus zweiter Hand. Aber weil das Weib die Endlichkeit so erklärt, darum ist sie des Mannes tiefstes Leben, aber ein Leben, das verborgen ist, wie es das Leben der Wurzel immer ist. Siehe, deshalb hasse ich die abscheuliche Rede von der Emanzipation des Weibes von ganzer Seele. (EO: 603)

Sollte es wirklich ein einziges Weib geben, die so einfältig, eitel und jämmerlich wäre, daß sie glaubte, sie könne unter der Maske des Mannes vollkommner werden als der Mann? (EO: 603)

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