4 Anfechtung und Verteidigung der VernunftVernunft hat seit längerer Zeit keinen guten Leumund mehr.„Die Vernunft ist die Gesamtheit der Gründe, die die Menschheit sich gibt, um zu gehorchen.“ (Gilles Deleuze; Quelle nicht genau bekannt)„Gehorchen“ wird dabei meist in einer eindeutig negativen Bedeutung verstanden. Mir persönlich begegnet oft die Haltung: „Du kannst doch gar nicht behaupten, etwas Wahres aussagen zu können - Wahrheit ist doch immer sozial konstruiert.“ Häufig besteht linke Theorie nur noch darin, Kritik zu üben, andere Texte zu „dekonstruieren“, aber sich selbst auf keine Aussagen festlegen zu lassen, die als falsch oder richtig bestimmt werden könnten. Ein Anspruch auf Erkenntnis wird als „Besserwisserei“ gewertet und Machtansprüche werden unterstellt.
Die Aufklärung war einst angetreten, der Fremdbestimmung durch den Glauben und der Unmündigkeit den Kampf anzusagen. Sie setzte auf Vernunft und Zukunftsoptimismus. Diese Position wurde stets auch hinterfragt, vor allem zugunsten einer stärkeren Wertschätzung des Gefühls (Sturm und Drang, Romantik). Praktisch jedoch setzte sich angesichts des Aufschwungs und der Dynamik des real existierenden Kapitalismus der aufklärerische Trend maßgeblich durch. Im 20. Jahrhundert wurden dessen Schattenseiten unübersehbar, vieles konnte beim besten Wille nicht mehr als „List der Vernunft“ begriffen werden (insb. der Faschismus). Während die aus der Betonung des Gefühls entstandene Aufklärungskritik durch Hegel ausdrücklich mit verarbeitet wurde („Gesetz des Herzens“ in HW 3: 275ff.), konnte er diese Entwicklung natürlich nicht voraus sehen. Insofern sind die Kritische Theorie seit dem frühen 20. Jahrhundert und die sog. Postmoderne seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Herausforderungen für eine Weltanschauung, die sich weiterhin auf Hegels Philosophie beziehen möchte. (Die Hinzufügung des "sog." bei der Postmoderne soll keine Geringschätzung ausdrücken, sondern daran erinnern, dass auch Autoren, die der Postmoderne zugerechnet werden, bzw. diesen Ausdruck selbst eingeführt haben, sich gegen diese Etikettierung gewehrt haben).
Ich kann es hier nicht leisten, diesen Themenkomplex zu bearbeiten, ich möchte nur einige Gedanken äußern. Mein Eindruck ist, dass insbesondere im 20.Jahrhundert die diffizile Unterscheidung von Verstand und Vernunft verloren gegangen ist (dazu kommt vor allem auch, dass eine angemessene Interpretation von Hegel nie so recht in den englischen Sprachraum vordrang). Das zeigt sich insbesondere auch an der völligen Verblüffung, die man auch bei studierten Philosoph_innen häufig erlebt, wenn sie erfahren, dass es eine sinnvolle Unterscheidung zwischen abstrakt-Allgemeinem und konkret-Allgemeinem gibt - sie kennen nur deren abstrakte Form, bei der in der Verallgemeinerung das jeweils Besondere der verallgemeinerten Elemente verschwindet. Ebenso kennt man als Identität nur die abstrakte, isolierende Identität, die Unterschiede auslöscht.
Als „Rationalität“ wird also nur jene Form des Bewusstseins verstanden, für die Hegel den Begriff des „Verstandes“ hat und es ist nicht bekannt, inwiefern „Vernunft“ diese voraussetzt und gleichzeitig negiert. Das didaktische Problem besteht darin, dass man dies erst begreift, wenn man die Denkform des vernünftigen Begreifens einigermaßen erreicht hat und nicht selbst in der Praxis des bloßen Verstehens stecken bleibt.
Die Grenzen des bloß verständigen Denkens sind leicht nachzuweisen. Aber mit den Mitteln des bloß verständigen Denkens kommt man nicht darüber hinaus. Auch eine bloß vernichtende Kritik ist lediglich verständig. Die Dekonstruktion von Objektivitätsbehauptungen, also der Nachweis, wie die gesellschaftspolitische Positionierung das beeinflusst, was in welcher Weise erkannt oder gedacht wird, gehört auch zum Verstehen. Es ist (wenn es einigermaßen gut begründete ist) nicht falsch und auch wertvoll, aber „es genügt nicht die einfache Wahrheit“. Nur negative dekonstruierende Kritik hilft uns nicht beim vernünftigen Handeln.
Interessant ist, dass Michel Foucault, der mit seiner Diskurstheorie mit am Anfang der „Post“-Bewegungen (Poststrukturalismus, sog. Postmoderne) stand, die Verabschiedung der Rationalität bis zur Endkonsequenz nicht teilt. Während Adorno und Horkheimer nur die „instrumentelle Vernunft“ als „Vernunft“ kennen, verweist Foucault darauf, dass im Begriff der Vernunft durchaus auch die ethische Dimension steckt, während das französische Wort (raison) tatsächlich eher nur den instrumentellen Aspekt beinhaltet. Er selbst lässt dabei offen, ob es auch eine nichtinstrumentelle Vernunft gibt, er beschäftigt sich nur mit der kritischen Analyse der instrumentellen (vgl. Welsch Vorlesung).
Es wäre ein interessantes, aber für mich derzeit zu großes Projekt, die Inhalte der sog. Postmoderne gründlich durchzugehen mit der Frage, wo sie das Erreichte (z.B. bei Hegel) zu verkürzt darstellen und wo eine Präzisierung mit dessen Philosophieform eine Bereicherung der sog. Postmoderne ergeben könnte - aber auch, wo die sog. Postmoderne tatsächlich Neues aufgreift, das in dieser Form bei Hegel noch nicht enthalten sein konnte und was vielleicht auch in dessen System nicht hineinpasst. Ich kann mir gut vorstellen, dass die sog. Postmoderne über Hegel hinaus einiges zu den Weltkulturen beitragen kann (zur Interpretation der Postmoderne als „Versuch zur Realisierung der Inhalte der Moderne“ siehe Engelmann 1990; siehe auch eine frühere Übersicht von mir zur Postmoderne).
Auch das, was die sog. Postmoderne neu aus der Wirklichkeit heraus als Thema aufgreift bedeutet aus meiner Sicht kein „hinter Hegel zurück“, sondern das, was ich eben schrieb: ein „darüber hinaus“.
Lyotard forderte: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen.“ (Lyotard 1982: 48). Dies mag für viele Themen und Gegenstände angemessen sein (etwa für kulturelle Aspekte)- aber es wäre höchst dumm, darüber all jene Erkenntnisse zu vergessen, bei denen Ganzes wichtig für die Erklärung des Einzelnen ist und wo wir den verborgene Dynamik entdecken können, die hinter der Fragmentierung der Welt steckt (etwa bei der Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsweise).
Ohne hier ausführlich darauf einzugehen, habe ich mit den Schriften von Foucault (von einem in sich kohärenten Konzept kann man da ja kaum sprechen) und auch den sog. postmodernen Autoren vor allem das Problem, dass sie der Möglichkeit der Kritik an den konkreten gesellschaftlichen Zuständen in weiten Teilen die Grundlage entziehen (siehe eine entsprechende Foucaultkritik z.B. bei Ellebrecht 2005, Kritik des sog. postmodernen Denkens vgl. Seppmann 2003).
Auf jeden Fall jedoch müssten erst einmal jene Vorurteile über das „moderne“ Denken weggeräumt werden, die aus einer verfälschenden Interpretation kommen. Wenn ich z.B. eine Interpretation von Lyotard von Peter Engelmann lese, wird deutlich, dass die Entgegenstellung hier eine Folge eines Fehlverständnisses von Hegel und insb. Marx. Dem Marxismus wird zugeschrieben, er „setzt der Wirklichkeit Werte vor, die für alle gelten sollten und nach denen die Wirklichkeit einzurichten sei“ (Engelmann 1990: 12). Für den postmodernen Denker Lyotard dagegen gelte:
Letztlich baut man sich sehr häufig Pappkameraden auf, auf die sich leicht schießen lässt, womit man aber den gemeinten Autoren gar nicht trifft. Wenn schon meine Interpretationsversuche und Vereinfachungen nicht zu überzeugen vermögen: Glaubt bitte keinem Hegelkritiker, ohne selbst die Hegelsche Argumentation dazu zu kennen. Natürlich verlange ich damit (zu) viel von jenen, die schon vorher wissen, warum die Hegelsche Philosophie für sie nicht sinnvoll ist. Aber das Pappkameraden-Bashing befriedigt zwar sicher das eigene Selbstbewusstsein - aber man lernt dabei nicht viel dazu.
Selbst Foucault ist sich bewusst, dass man Hegel nicht einfach beiseiteschieben kann. Er schätzt ein, dass „unsere gesamte Epoche“ sich bemühe, „Hegel zu entkommen“ (Foucault 1998: 45)
Nehmen wir einen interpretierenden Satz von Taylor:
Wichtig ist, und dies auch vor allem im Interesse der jeweils Unterdrückten, dass die Welt nach einsehbaren Gründen eingerichtet sein müsse ((Holz 2002: 76)- dies richtet sich gegen jegliches Priesterwort aber auch dagegen, dass nichts außer persönlich-willkürlichen Interessen sich durchsetzen. Es geht bei Hegel um eine vernünftige Gesellschaftsgestaltung, nicht die verabsolutierende Freisetzung jeweils kurzfristiger Interessen. Die Vernünftigkeit ist zu bewerten im „Hinblick auf die menschliche Gattung überhaupt“, wie sich im folgenden Zitat von Hans Heinz Holz ergibt.
Hier sind wir nun bei einem neuen Thema, auf das ich hier nicht weiter eingehen möchte. Ich habe vor ziemlich genau einem Jahr schonmal dazu gebloggt (bzw. im Philosophenstübchen).
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