3.2.4 Verstand der Endlichkeit - Vernunft der UnendlichkeitDer Anspruch der Hegelschen Philosophie lässt sich auch gut zeigen am Unterschied zwischen Endlichem und Unendlichem. Während die Fülle der normalen verstandesmäßigen Erkenntnisse sich aneinander reiht zu einer sehr, sehr langen Kette von Ergebnissen, so kann diese Kette zwar beliebig lang werden, aber es gibt immer wieder neue Teile und die Summe ihrer Teile erzeugt keine neue Qualität.
Anders dagegen bei der Vernunft: Die Vernunft zielt auf das Ganze, das kein Anderes mehr außer sich hat. Das gibt es bei Hegel einerseits für die „ganze Welt“ - aber auch Teilbereiche wirken als Allgemeines, aus dessen Bewegungsdynamik heraus sich seine eigenen Besonderungen entwickeln - dies sind in der Sprache der modernen Komplexitätstheorie „Systeme“. Selbstverständlich haben sie letztlich Beziehungen zu anderen Systemen - aber um ihre innere Dynamik zu begreifen, abstrahieren wir von diesen Beziehungen. Erst wenn wir ein umfassenderes System betrachten, erweist sich das vorherige System lediglich als Teilbereich des neuen Untersuchungsgegenstands.
Aber wenn wir etwas als System betrachten, dann betrachten wir nicht mehr nur die gegenseitigen Beeinflussungen der Teile des Systems untereinander, sondern wir erkennen deren Bewegungen als Folge der Strukturen und Bewegungsdynamiken des Gesamtsystems. Die erste Perspektive (gegenseitige Beeinflussung verstehen) ist verwandt mit dem, was wir hier als Verstand diskutieren - die zweite Perspektive: die Einzelbewegungen in ihrem Zusammenhang zur Systemdynamik zu betrachten, ist verwandt (aber nicht identisch) mit der Vernunft.
Die Summe der endlichen Verstandeserkenntnisse erkennt nur immer weitere Bedingungen hinter dem Bedingten und so weiter und so fort. Alle Teile sind bedingt - und das heißt, sie sind letztlich unfrei, d.h. nicht durch sich selbst bestimmt. Diese Unfreiheit im Endlichen ist es, die Hegel überwinden will.
Dies gelingt ihm, indem er zu dem übergeht, was nichts Äußeres mehr als seine Bedingung außer sich hat, was sich selbst bedingt und bestimmt - und dieses ist, da es die unerschöpfliche Fülle der Welt in sich trägt, unendlich. Der Verstand erreicht nur die „schlechte Unendlichkeit“ (HW 4: 277) der ewigen Aufeinanderfolge, die man sich als eine unendlich lange Linie vorstellen kann. Das Ziel der Vernunft besteht jedoch darin, das aufzudecken, was wie ein Kreis auch unendlich ist, aber sich mit sich selbst verbindet und nicht immer weiter auseinander strebt.
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