Die Phänomenologie des Geistes |
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1. Zur Methodik der "Phänomenologie"
1.1 Gegenstand der Philosophie - idealistisch bzw. onto-epistemisch bestimmt
Von der Welt wird dabei nur vorausgesetzt, dass sie verstehbar sei, was letztlich bedeutet, dass sie nichts ist, was sich unserem Erkenntnisvermögen endgültig widersetzen würde. Der Gegenstand der philosophischen Betrachtung ist dann nicht, wie die Welt verfasst ist - dies ist Gegenstand der Einzelwissenschaften. Nein, die Philosophie - zumindest für Hegel und eine große philosophische Tradition - fragt nach dem Verhältnis vom erkennenden Bewusstsein und seinen Gegenständen. Diese Gegenstände sind nicht die "Dinge da draußen", sondern sie sind das Gewusste, und zwar auf dem jeweiligen Entwicklungsstand der Erkenntnis. Das heißt, die "Sache", um die es geht, ist nichts außerhalb des Bewußtseins, sondern
1.2 Der Weg des natürlichen Bewußtseins...
Wie kommen wir nun zu dem, was wir als denkende, menschliche Wesen wissen können? Wir wollen das Wahre, aber dieses können wir nicht einfach irgendwie ausdrücken, ohne zu sagen, was der Ausdruck bedeutet. Was bedeutet es, einen "Begriff" von etwas zu haben? Wie hängen "Begriff" und "Sache" zusammen? Wie kommt es, dass die höchste Erkenntnis von einem Gegenstand immer bedeutet, ihn als Bewegungszusammenhang seiner dialektischen Widersprüche zu begreifen? Was heißt das für jeweils meine Fragestellung? Auf diese Weise steckt im Ergebnis stets der ganze Prozess des Erkennens mit drin, über alle notwendigen Durchgangsstufen. "Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen." (HW 3: 24) Also müssen wir wohl oder übel die Entwicklung der Erkenntnis selbst vollziehen, wenn wir das Resultat verstehen wollen. Damit könnte ich nun Schluss machen und auf die Originaltexte von Hegel verweisen. Aber ich muss zugeben, dass ich auch Einstiegshilfen benötigt habe und immer wieder benötige, um Hegels Argumente nachvollziehen zu können. Solche Zusammenfassungen sind im Hegelschen Sinne immer "falsch", weil sie nicht die "ganze Wahrheit" in ihrer notwendigen Entwicklung nachvollziehen, aber sie helfen vielleicht manchmal über Erkenntnisbarrieren hinüber bzw. geben Motivationen, über das Gelesene noch mal nachzudenken.
Die schon genannte "Wissenschaft der Logik", die Hegel nach der "Phänomenologie" ausarbeitete, hat dann nicht mehr Bewusstseinsgestalten zum Gegenstand, sondern beschäftigt sich mit "reinen Denkbestimmungen" (HW 8: 84). Es geht dort nicht mehr um die Welt/Selbsterkenntnis von Menschen, sondern um die Selbsterkenntnis des "absoluten Geistes". Ob die "Phänomenologie" zum System der Wissenschaften von Hegel notwendig hinzugehört, oder nur eine (aus späterer sicht auch verzichtbare) Vorarbeit ist, darüber streiten sich die Experten. Es gibt neben dem unterschiedlichen Thema/Gegenstand der Schriften auch methodische Differenzen, z.B. in der Verwendung der Kategorien "an sich, für sich, an-und-für-sich", was mitunter Verwirrung stiftet und Verständnisschwierigkeiten zwischen "Phänomenologen" und "Logikern" hervorruft. Es ist aber auch möglich, die Phänomenologie als eine Art "Leiter" hinauf zu den Höhen des Hegelschen Denkens zu verwenden, die vielleicht danach nicht mehr unbedingt gebraucht wird. Auf jeden Fall meinte Hegel:
1.3 ... hin zur Identität von Gegenstand und Begriff, von Wissen und Wahrheit
Eine Besonderheit der Methode der "Phänomenologie des Geistes" ist es, dass immer unterscheiden wird zwischen dem Standpunkt des Bewusstseins und dem Standpunkt von äußeren Beobachter_innen/Leser_innen, die darüber nachdenken und es beschreiben. Die Bewegung findet aber im Bewusstsein statt, auf seinem "Selbsterfahrungstrip". Es geht um einen Bildungsprozess, bei dem Erfahrungen gemacht werden, um eine "bessere Einsicht über sich und sein Wissen" zu gewinnen (Römpp 2008: 27) Das Ziel dabei ist die Aufhebung der Differenz zwischen "Begriff" (mehr dazu etwas weiter unten) und "Gegenstand". Die Übereinstimmung zwischen beiden wird auf jeder Entwicklungsstufe geprüft und wenn sie noch nicht realisiert ist, muss weiter gegangen werden.
Normalerweise würden wir denken, dass wir nun betrachten, wie sich das Bewusstsein in einer äußeren Welt verhält und wie es mit den Erfahrungen umgeht. Der Weg von "Faust" wäre solch ein Selbsterfahrungs-Trip, bei dem sich das Subjekt durch seinen Weg durch die objektive Welt selbst verändert und auch die Welt verändert. Vorausgesetzt ist erst einmal ihr Unterschied, ihre Trennung und im Laufe der Zeit verschlingen sich - im günstigen Fall - Selbst und Welt immer mehr. Das würde bedeuten, dass es einerseits die Welt gibt, so wie sie "an sich" ist und andererseits sehen wir sie, wie sie "für uns" erscheint (HW 3: 76). Aufgrund der in 1.1 erläuterten Reduktion der Betrachtung auf den "Gedankenfilm" im Bewusstsein bei Hegel geht es aber die ganze Zeit explizit nur darum, wie das Bewusstsein selbst sich entwickelt. Es selbst kennt das"An sich" (noch) nicht; es weiß nicht, wie das Äußere ist. Das weiß nur ein äußerer Beobachter. Wir haben also zwei Standpunkte: Einerseits denjenigen des Bewusstseins selbst, das nur seine eigenen Zustände kennt und andererseits den Standpunkt eines äußeren Beobachters bzw. des Lesers der Phänomenologie (dies macht Hegel nur hier in der "Phänomenologie").
Das Bewusstsein selbst ist auch in sich differenziert: einerseits in das Bewusstsein von sich selbst und andererseits in das Bewusstsein des Gegenstands. (ebd.: 77) Es sind diese beiden Momente, deren dialektischer Widerstreit die Entwicklung vorantreiben wird. Auf jeder Stufe ist das Bewusstsein des Gegenstands eine Weiterentwicklung aus der früheren Entwicklung her - aber es wird sich zeigen, dass dieses Wissen noch nicht die volle Wahrheit ist. Deshalb muss sich das Wissen verändern und damit auch der Gegenstand. Dass sich im Erkenntnisprozess auch die Gegenstände verändern, klingt dann unglaublich, wenn man sich unter "Gegenstand" das gegenständliche Ding da draußen in der Welt vorstellt. Dann würde man denken, die ganze Abhandlung beschreibt, wie durch Denken die äußere Welt geschaffen wird. Aber so ist es nicht gemeint. Der Gegenstand ist das, was im Kopf jeweils Gegenstand der Erkenntnis ist. Das kann zuerst "das Ding da vor mir auf dem Schreibtisch" sein. Später, wenn ich seine verschiedenen Eigenschaften betrachte, ist es "etwas Rundes, Weißes, Henkel Tragendes" und letztlich wird der Gegenstand für mich zur "Tasse, die dazu hergestellt ist, um Flüssigkeiten hineinzufüllen und zu trinken". Dasselbe äußere Ding, aber verschiedene Erkenntnis-Gegenstände.
In der "Phänomenologie" wird das Wechselspiel zwischen Wissen und seinen Gegenständen dargestellt, aber nicht zwischen Gedanken und "Dingen da draußen". Trotzdem geht es nicht um beliebige Hirngespinste, sondern um Wahrheit! Die Wahrheit ist dann erreicht, wenn der Gegenstand seinem Begriff entspricht. Und was ist nun der Begriff? Es ist keine definitorische Bezeichnung, keine Kategorie, sondern bei Hegel ist im Begriff jene Einheit begriffen, aus der sich alle unterschiedlichen Momente und Aspekte und sogar die Widersprüche der Sache begründen lassen. Anders ausgedrückt: Im Begriff werden jene Bestimmungen erfasst, aus denen sich alle anderen ableiten lassen. Er ist die "geistig reproduzierte Totalität" (Schlemm 2005: 141). Der Begriff einer Sache ist deshalb auch niemals nur ein Wort, sondern jeweils die ganze in sich systematische Theorie, aus der sich alles Wichtige ergibt für das Sachgebiet. (Zum "Begriff" in der Logik siehe auch Schlemm 2002).
Wir haben nun in der "Phänomenologie" eine Argumentationsstruktur, bei der das Bewusstsein sich über jeweils mangelhafte Zwischenstadien, bei denen das Wissen noch keine Wahrheit ist, in Richtung der Wahrheit bewegt - und dass wir als Leser_innen der "Phänomenologie" dabei zuschauen.
Auf diesem Weg ergibt sich jeweils eine bestimmte Einheit von Bewusstsein über seinen Gegenstand - diesen erreichten Zustand nennt Hegel "Gestalten des Bewußtseins", (HW 3: 80) bzw. des Geistes.
Jeder Gegenstand ist jeweils für den entsprechenden Bewusstseins-Entwicklungsstand gültig. Aber die Selbstprüfung des Bewussteins wird zeigen, dass dieses Sein-für-das-Bewusstsein, der konkret erreichte Wissensstand, noch nicht die ganze Wahrheit darstellt.
Von außen betrachtet, also für jemanden, der das "An sich" des Gegenstandes kennt, ergibt sich eine Differenz zwischen "An-sich" und "Für-das-Bewusstsein", also "für-sich". Dem Bewusstsein selbst, das keinen Außenstandpunkt hat, wird das nicht so klar, sondern es erkennt die Differenz an anderen Mängeln des jeweils erreichten Standes, an Widersprüchen. Das Ziel besteht letztlich im Erreichen eines "anundfürsichseiende[n] Wesen[s]" (HW 3: 325), wenn alles, was "an-sich" ist, auch gewusst wird.
Letztlich war das Ziel der ganzen Bewegung, das absolute Wissen bzw. der absolute Geist schon immer vorhanden. Aber es soll ja nicht dogmatisch hingestellt und gelernt oder geglaubt werden, sondern es soll in einem immer wieder kritisch hinterfragbaren Selbstbegründungprozess fundiert werden. Sein Inhalt ist nur wahr im Durchlauf der gültigen Argumentationen, er kann nicht geronnen als starres Resultat festgehalten werden. Deshalb beginnen wir mit so wenig wie möglich - der abstrakten sinnlichen Gewissheit - ,und verfolgen den Weg der in sich schlüssigen Entwicklung nach, ohne Fremdes hinzuzutun.
Für das Selbstbewusstsein etwa gilt:
Dabei überspringe ich die ersten Gestalten - das sind jene, in denen für das Bewusstsein die Gegenstände in der Form der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind (HW 3: 82-92), jene, in denen sie wie ein Ding mit Eigenschaften erscheinen (ebd.: 93-107) und jene, in denen sie etwas als Kraftäußerung erkennen (ebd.: 107-136). Sie sind wichtig, um zu verstehen, wieso wir tatsächlich von uns selbst ausgehen müssen, wenn wir etwas über die Welt wissen wollen. Sie zeigen, dass die Art, wie wir die Welt zuerst erfahren, in der sinnlichen Wahrnehmung - und auch den späteren Auffassungen der Dingheit bzw. der Kraftäußerung - in sich widersprüchlich sind und nicht der "Weisheit letzter Schluss" sein können.
2.1 Selbstbewusstsein, Leben und Individualität
Als Ergebnis erfährt das Bewusstsein, dass es Selbstbewusstsein ist. Es war schon immer Selbstbewusstsein - auch als es für sich selbst noch die (hier ausgelassenen) Vorstufen Sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung und Verstand durchlief -, es wusste es vorher aber noch nicht (nur wir als "Beobachter_innen" wussten es und verfolgen mitlesend seine Selbsterkenntnis). Das heißt, es weiß, dass es seinen Gegenstand weiß. Es hat sich sozusagen innerlich verdoppelt: Es ist es selbst (Ich bin Ich), aber auch das Wissende über den Gegenstand (Ich bin, der über den Gegenstand weiß, der also nicht der Andere ist). Selbstbewusstsein ist "wesentlich die Rückkehr aus dem Anderssein" (HW 3: 138).
Zum Prozess des Lebens gehört, dass es eine Entzweiung gibt: die lebende Gestalt ist bestimmt als unterscheidbar gegenüber Anderem, sie ist selbständig und sie erhält sich durch Stoffwechsel:
In der Entwicklung des Selbstbewusstseins ist es dahin gelangt, vom Gegenstand als dem seinen zu wissen. Aber, wie Hegel in der "Enzyklopädie" erklärt, es weiß das noch nicht - nur wir als die äußeren Beobachter wissen es (HW 10: 213)
2.2 Gegenseitige Anerkennung - Prügel, Herr und Knecht, Staat
Bis hierher hat die Entwicklung des Selbstbewusstseins den Zustand des Begehrens nach äußeren Objekten erreicht. Weil das Objekt der Begierde gemäß ist, sieht das Subjekt "im Objekt etwas zu seinem eigenen Wesen Gehöriges und dennoch ihm Fehlendes". (HW 10: 217 § 427 Zusatz) Der Apfel ist zum Essen geeignet und da ich Appetit auf einen Apfel habe, esse ich ihn. Beim Verzehr geht das Objekt natürlich zugrunde, denn wir befinden uns hier im Bereich des Unmittelbaren.
Was nun aber, wenn das Andere ein anderer Mensch ist? Es geht dann um "ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" (HW 3: 144). Ein "Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist"(ebd.: 145) - ist bereits der Begriff des Geistes - aber das wissen nur wir Beobachter_innen, das weiß das sich entwickelnde Selbstbewusstsein noch nicht. Was das in Wahrheit - am Ende der folgenden Entwicklung - bedeuten wird, schreibt Hegel:
Wie ist nun aber die höhere Anerkennung zu erreichen? Wenn der Andere als menschliches Wesen genommen wird, ist er nicht mehr als ein bloß Natürliches behandelt (HW 10: 220 § 431 Zusatz). Es geht darum, dass ein Verhältnis gefunden werden muss, in dem der Eine und der Andere jeweils den Anderen anerkennen. Hier erreichen wir die nächste Stufe mit dem oft zitierten "Herr-Knecht-Verhältnis" (HW 3: 150 ff.; HW 10: 222 § 433).
Dieses ist nun keine soziologische Abhandlung über Herrschaftsverhältnisse, sondern die Bezeichnungen "Herr" und "Knecht" bezeichnen bestimmte Formen des Selbstbewusstseins, "zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins" (HW 3: 150) So steht die Bezeichnung "Knecht" für ein Selbstbewußtsein, "welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes, d. h. als seiendes Bewußtsein oder Bewußtsein in der Gestalt der Dingheit ist" (ebd.). Der "Herr" bezeichnet das Selbstbewusstsein, welches "das selbständige, welchem das Fürsichsein [...] das Wesen ist" (ebd.). Der Knecht ist definiert durch seinen Bezug zu fremdem dinglichen Sein, das er bearbeitet.
Wie beziehen diese beiden sich nun aufeinander und was entwickelt sich daraus? Der Herr bezieht sich mittelbar durch den "Knecht" auf das Ding und auf den "Knecht" als denjenigen, "dem die Dingheit das Wesentliche ist" (ebd.: 150-151). Der "Knecht" bezieht sich auf das Ding, indem er es bearbeitet, d.h. es ist selbständig gegen ihn und er kann es nicht vernichten. Der "Herr" dagegen spürt diese Seite der Selbständigkeit des Dings nicht, er "genießt es rein" (ebd.: 151). Allerdings ist er darin abhängig, einmal von der Bearbeitung des Dings und von demjenigen, der es bearbeitet. Darin muss er das Andere anerkennen. Der "Knecht" wiederum muss den Anderen von vornherein anerkennen, denn "was der Knecht tut, ist eigentlich Tun des Herrn" (ebd.: 152). Allerdings ist dieses Anerkennen "einseitig und ungleich" (ebd.). Der Befriedigung des "Herrn" unterliegt dem Problem, dass die selbstsüchtige Befriedigung einer Begierde nur vorübergehend sein kann und neue Begierde erzeugt (vgl. HW 10: 218 § 428 Zusatz). In der Arbeit jedoch erlebt der "Knecht" "gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden", Arbeit "bildet" (HW 3: 153). Aus der schlecht unendlichen Aufeinanderfolge von Begehr und Verzehr entsteht "die Form der Allgemeinheit in Befriedigung des Bedürfnisses" als "ein dauerndes Mittel und eine die Zukunft berücksichtigende und sichernde Vorsorge" (HW 10: 224). Die Bedeutung der Vorsorge unterscheidet auch die menschliche Qualität von Bedürfnissen in Unterscheidung zu rein natürlichen Bedarfszuständen. In menschlichen Gesellschaften geht es um die "vorsorgende Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen" (Holzkamp 1983: 246).
Hegel sieht aber nicht nur diese Bedeutung von Arbeit. Der "Knecht" jedenfalls erlebt sie als ein Bilden, bei dem das, was er schafft, nichts fremdes mehr ist es ist "ihm nicht ein Anderes" als er selbst (HW 3: 154). "Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigener Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien." (ebd.) Auch in der entfremdeten Arbeit, die im Dienste anderer stattfindet, erlebt der "Knecht" bei der Arbeit am Material seine Wirkfähigkeit. Das Fazit des Herr-Knecht-Kapitels beschreibt Ernst Bloch treffend:
Der notwendige Übergang von der Einzelheit zur Allgemeinheit jedenfalls wird vom "Knecht" realisiert, denn dieser arbeitet nicht nur für seinen Einzel- und Eigenwillen, sondern für den Herrn. In dieser Entäußerung macht er "den Anfang der Weisheit - den Übergang zum allgemeinen Selbstbewußtsein" (HW 10: 224 § 435).
Für all jene, die heutzutage gegen vorhandene Herrschaftsformen kämpfen, entsteht die Frage, ob es ausreicht, in einer Art abstrakten Utopie zurück zu kehren zur Orientierung an den natürlichen Einzelwillen - oder welche Art freiheitlicher Allgemeinheit entwickelt werden kann. Das würde bedeuten, dass nicht wieder Einzelne gegeneinander stehen, sondern dass jeder im andern sich selbst sieht (HW 10: 226-227 § 436 Zusatz). Die Aktivitäten der natürlich einzelnen Individuen sind nicht aus sich heraus schon gesellschaftlich allgemein - unter welchen Bedingungen können sie es werden ohne "Unterwerfung", "Zucht" und "Gehorsam"? Das folgende Zitat kennzeichnet keine Tatsächlichkeit, sondern ein noch zu erreichendes Ziel.
Aber wir sind noch nicht auf der Stufe des Freiheit und Vernunft verbürgenden Staates. Verfolgen wir den Weg des Selbstbewusstseins weiter:
2.3 Stoizistisches, skeptizistisches und unglückliches Bewusstsein.
Als abstraktes Gegenteil des Eigensinns findet sich das Selbstbewusstsein im Denken frei - damit kann es sich von allen Abhängigkeiten des Lebens frei halten und sich "aus dem Wirken wie dem Leiden, in die einfache Wesenheit des Gedankens" zurückziehen (HW 3: 157). Allerdings wird es dabei selbst leblos. Dies wird das stoische Bewusstsein genannt. "Die Freiheit des Selbstbewußtseins ist gleichgültig gegen das natürliche Dasein..." (ebd.: 158), sein Denken ist jedoch nur reines, abstraktes Denken "ohne die Erfüllung des Lebens" und seine Freiheit ist "nur der Begriff der Freiheit, nicht die lebendige Freiheit selbst" (ebd.). Sie fangen bald an "Langeweile zu machen" (ebd.: 159).
Das, was das stoische Bewusstsein außen vor lässt, die "undenkbare Wirklichkeit" (Römpp 2008: 95), wird für das skeptische Bewusstsein zum Anlass, dieses Anderssein nur negativ zu enthalten, es zu vernichten. Das skeptische Selbstbewusstsein ist sich seiner selbst fest bewusst, aber es kann sich nicht durch Beziehungen auf anderes inhaltlich bestimmen, sondern es ist "nur eine schlechthin zufällige Verwirrung, der Schwindel einer sich immer erzeugenden Unordnung." (HW 3: 161). In dieser Unordnung versteht es sich selbst auch nur als einzelnes, zufälliges Bewusstsein. Es wird so eine "bewußtlose Faselei" (ebd.: 162).
Das Bewusstsein entzweit sich so in sich selbst, es wird zum unglücklichen Bewusstsein. "Herr" und "Knecht" sind nicht mehr in unterschiedenen Selbstbewusstseinen sondern in einem. In ihm zeigt sich der Widerspruch zwischen dem Allgemeinen (dem nur denkbaren Begriff) - dem das stoische Bewusstsein anhing - und den einzeln vorkommenden Dingen - die für das skeptische Bewusstsein wesentlich waren. Ein Teil des Bewusstseins hält sich an den Begriff, will unabhängig vom Einzelnen sein, der andere klammert sich ans Einzelne und will es gestalten. (Ludwig 1997: 110 f.) Der Kampf der beiden entzweiten Anteile gegeneinander bringt jedoch keine Befriedigung, denn er erzeugt den Gegensatz nur immer wieder neu. Dieser zeigt sich als Gleichzeitigkeit, aber Unversöhntheit des gedankenlosen Fühlens und einer unendlichen Sehnsucht und des Gedankens, der nur Unwesentliches in sich fasst.
Einen Ausweg aus dieser Lage findet der unglückliche, in sich zerrissene Einzelne in der Aufopferung seiner Einzelheit und darin, seinen Willen "als eines nicht einzelnen, sondern allgemeinen" (ebd.: 176) zu sehen. Was bedeutet es nun, sich als einzelnes Bewusstsein allgemein zu verhalten? Es bedeutet, Vernunft zu haben, sich vernünftig zu verhalten. Vernünftiges Denken bedeutet, das allgemeine Denken auf das ihm gegenüber stehende Gegenständliche der Welt zu beziehen, das darin gleichzeitig einzeln und allgemein ist. (Römpp 2008: 96). Dies setzt voraus, dass die einzelnen Gegenstände und Ereignisse "innerlich vernünftig und deshalb vernünftig zu verstehen bzw. zu erklären" (ebd.) sind. Zur Vernunft bei Hegel schreibt sein Kommentator Erdmann: "In der Welt ist "Vernunft" heisst (objectiver) Zusammenhang." (Erdmann 1864: 4 § 7,1) Dies bedeutet nicht, dass die Zerrissenheit aufgehoben wäre, aber die Vernunft findet eine Einheit in der Zerrissenheit. Vernunft setzt "absolute Entzweiung zu einer relativen herunter" (HW 2: 22).
Wenn wir im stoischen Bewusstein die Verabsolutierung des Subjektiven gegenüber den Widrigkeiten der objektiven Welt, im skeptischen Bewusstein die Vorherrschaft der Orientierung an empirischen Einzelheiten, also des Objektiven, sehen, so offenbart sich im unglücklichen Bewusstsein deren Zerrissenheit, die durch vernünftige Reflexion relativiert werden kann. Wir erkennen hier die für die dialektische Methode übliche Aufeinanderfolge von abstrakter Identifizierung (einmal mit dem Subjekt, einmal mit dem Objekt), Unterscheidung/Trennung/Gegensatz (zwischen Subjekt und Objekt im unglücklichen Bewusstsein) und höherer Einheit (in der Vernunft).
Als Vernunft schlägt das bisher negative Verhältnis zu dem Anderssein in ein positives um (HW 3: 178). Das vernünftige Selbstbewusstsein begreift, "daß alle Wirklichkeit nichts anderes ist als es" (ebd.: 179). Dies wird erreicht durch die Reflexion; in dieser erkennt das Selbstbewusstsein, dass das Andere keine Wirklichkeit neben sich ist (ebd.: 181), sondern - wenn es vernünftig ist - mit ihm übereinstimmt. Indem die Welt vernünftig ist, kann die sie erkennende Vernunft sie nur als mit sich identisch erfahren, sie "ist gewiß, nur sich darin zu erfahren." (ebd.: 179).
"Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein" (ebd.: 179) - dies nennt Hegel ausdrücklich Idealismus. Idealismus ist also eine Weltanschauung, die die Welt als vernünftig betrachtet und deshalb erkenn- und gestaltbar. Wenn dies nicht stimmt, so gibt es in der Welt etwas der Vernunft grundsätzlich Disparates und das würfe uns auf den Zustand des stoischen, skeptischen oder unglücklichen Bewusstseins zurück. Wir wären höchstens im Sinne einer abstrakten Freiheit frei. Ludwig betont in seinem Kommentar, dass der Idealismus letztlich auch bedeutet, dass Realität durch das Bewusstsein gesetzt werden kann, dass auch widrigen Umständen nicht die letzte Seinsmacht zuerkannt wird (Ludwig 1997: 121).
Wir sind immer noch beim einzelnen Selbstbewusstsein, dass inzwischen aber vernünftig geworden ist. Das bedeutet, dass das Andere, die Welt nicht mehr als entgegengesetzt angenommen wird, sondern in ihm wird dieselbe Vernunft angenommen wie in sich selbst. Deshalb hat die Vernunft "die Ruhe gegen sie empfangen und kann sie ertragen" (HW 3: 179) Dies wird vom "Vernunft-Bewusstsein" (Römpp 2008: 97) vorerst noch als natürlicher Zustand hingenommen, noch nicht als Ergebnis einer Entwicklung begriffen (was wir als Beobachter_innen wissen).
Die nächste Stufe ist die "beobachtende Vernunft" (HW 3: 185 ff.), was die Art und Weise meint, die Welt nach Kriterien einzuteilen und auf Begriffe zu bringen (Römpp 2008: 99). Es geht also nicht mehr nur um die sinnliche Wahrnehmung, sondern die Suche nach der Vernunft in der Welt, nach ihrem Wesen, ihrer Allgemeinheit. Auf dieselbe Weise verhält sich das vernünftige Selbstbewusstsein nun gegen sich selbst und entdeckt "logische und psychologische Gesetze" (ebd.: 226). Auf diesem Web versucht sich die Vernunft in den Einzelheiten der empirischen Wirklichkeit zu finden (Römpp 2008: 101). Diese empirische Wirklichkeit wird dabei aber ihrer Unmittelbarkeit enthoben, die Gegenständlichkeit gilt nur noch als Oberfläche, "deren Inneres und Wesen es selbst ist" (HW 3: 263). Dass der Gegenstand nichts Fremdes mehr ist, ist ihm eine "innere Gewißheit", d.h. es ist an sich (ebd.). Aber nun muss es noch für es werden, die Vernunft bleibt nicht beobachtend (d.h. das allgemeine Wesen im Einzelnen erkennend), sondern sie wird tätig. Das heißt, es reicht nicht aus, etwas als in der Welt als an sich vernünftig zu begreifen, sondern das vernünftige Selbstbewusstsein muss auch "seine Wirklichkeit im anderen fordern und hervorbringen" (ebd.).
Vorausgesetzt ist dabei noch, dass das vernünftige Selbstbewusstsein unmittelbar als Einzelnes existiert (HW 3: 268). Wenn es in dieser Form nach Verwirklichung strebt, sieht es das andere, die vorgefundene Wirklichkeit, wiederum zuerst als etwas von seinem individuell-einzelnen Zweck getrenntes (ebd.: 269). Aber es will seine Wirklichkeit im andern hervorbringen.
2.4 Die Lust, das Gesetz des Herzens und die Tugend
Auf dem Weg der Erfahrung, in der Welt sich selbst wieder zu finden, durchläuft das Selbstbewusstsein zuerst die Stufe der Lust.
Im zweiten Versuch, "die Vernunft zur Wirklichkeit zu bringen" (Römpp 2008: 103), versetzt das unmittelbare Selbstbewusste das Notwendige in sich. Es wird zum "Gesetz des Herzens" (HW 3: 275). Diesem steht nun aber die Wirklichkeit entgegen, denn das Gesetz des Herzens gilt als Unmittelbares jeweils für die einzelne Individualität, während dem eine allgemeine, "gewalttätige Ordnung der Welt" (ebd.: 275) gegenüber steht.
Dieser Allgemeinheit gegenüber versucht das Selbstbewusstsein nun nicht mehr nur der eigenen Lust zuliebe entgegen zu wirken, sondern "in der Hervorbringung des Wohls der Menschheit" (ebd.: 276). Das Kriterium für das Richtige in der Welt wird allein dem "Gesetz des Herzens" im Individuum entnommen:
Der Eigendünkel ist schon kein Egoismus mehr, denn er wollte ein allgemeines Gesetz verwirklichen. Aber er lässt keine Vermittlung mit der Realität zu (Römpp 2008: 105). Ernst Bloch kennt dieses Verhältnis ebenfalls: "Aber Liebesgefühl, das selber nicht von Erkenntnis erleuchtet ist, versperrt gerade die helfende Tat, zu der es sich doch aufmachen möchte." (Bloch PH: 316)
Einerseits ist nun die "unmittelbare allgemeine Individualität das Verkehrte und Verkehrende" (HW 3: 281) - andererseits zeigt sich auch die geistige Allgemeinheit in sich widersprüchlich: Zwar klagen Individuen über diese Ordnung, "als ob sie dem inneren Gesetz zuwider laufe" und halten Meinungen des Herzens gegen sie (ebd.: 282) - aber "wenn diese Ordnung ihnen genommen wird oder sie selbst sich daraussetzen", verlieren sie alles. Auch dies erleben viele von uns häufig.
Solch einen unendlichen Weltlauf nur zu beschreiben, ist nicht Hegels Ziel. Er sucht immer noch nach einer Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem. Das wäre eine "Allgemeinheit [...] die von allen Individuen getragen wird
" (Römpp 2008: 106) Diese wird vom Selbstbewusstsein nun eventuell in der Tugend gefunden. Dabei muss die "Einzelheit des Bewußtseins" aufgeopfert werden. (HW 3.: 283). Ist das tatsächlich die Lösung? Kommt es nur darauf an, den Eigendünkel aufzugeben und sich tugendhaft in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen zu begeben? Stimmt das (Vor-)Urteil über Hegel, dieser ließe das Individuelle vom Allgemeinen negieren?
Schauen wir uns dazu das Verhältnis zwischen Tugend und Weltlauf näher an.
Wir können nicht einfach das hineindenken was wir vermuten oder in irgendeinem Wörterbuch finden zur Kategorie "Tugend". Der Inhalt dieser Kategorie kann sich nur in den konkreten inhaltlichen Ausführungen von Hegel ergeben. Hier meint er, wie er etwas später explizit sagt, nicht die antike Tugend, sie er höher schätzt, sondern "eine wesenlose Tugend, eine Tugend, mit der Vorstellung und der Worte, die jenes Inhalts entbehren" (ebd.: 290), das in der antiken Tugend noch enthalten war. Die Vorstellung von Tugendhaftigkeit, die Hegel an dieser Stelle entwickelt und auch kritisiert, geht von der notwendigen Aufhebung der Individualität aus. Es geht um die "wahre Zucht", welche die "Aufopferung der ganzen ganzen Persönlichkeit als die Bewährung" ist (HW 3: 283). Sie verschwindet damit auch aus dem Weltlaufe und gerät dadurch aber in einen Selbstwiderspruch: Sie verschwindet aus dem Weltlauf, dem sie ja ihre Tugendhaftigkeit entgegen setzen wollte (ebd.: 284). Auch wenn sie sich nicht aufopferte, entstünde ein Widerspruch: "Denn insofern sie Individualität ist, ist sie das Tun des Kampfes, den sie mit dem Weltlaufe eingeht; ihr Zweck und wahres Wesen aber ist die Besiegung der Wirklichkeit des Weltlaufs; die dadurch bewirkte Existenz des Guten ist hiermit das Aufhören ihres Tuns oder des Bewußtseins der Individualität." (ebd.: 285)
Im Verhältnis von Weltlauf und Tugend gewinnt laut Hegel der Weltlauf, denn dieser ist wirklich und seiend und nicht nur eine "wesenlose Abstraktion" (ebd.: 189). Der Weltlauf "siegt aber nicht über etwas Reales, sondern über das Erschaffen von Unterschieden, welche keine sind, über diese pomphaften Reden vom Besten der Menschheit und der Unterdrückung derselben, von der Aufopferung fürs Gute und dem Mißbrauche der Gaben; - solcherlei ideale Wesen und Zwecke sinken als leere Worte zusammen, welche das Herz erheben und die Vernunft leer lassen, erbauen, aber nichts aufbauen...." (ebd.: 189). Es macht also laut Hegel keinen Sinn, eine "Vorstellung von einem an sich Gutem, das noch keine Wirklichkeit hätte" (ebd.: 290) zu pflegen. Eine solche Vorstellung würde letztlich der Wirklichkeit notwendigerweise immer vorauseilen und letztlich nie wirklich werden können.
Ich kann hier erinnern an meine Überlegungen zur "Zukunft und Sollen bei Hegel" (Schlemm 2009): Die Situation, in der etwas anderes sein soll, als ist, kennt und akzeptiert Hegel beispielsweise aus der Sicht unserer physischen Lebendigkeit und der "Forderung, was zunächst nur subjektiv und innerlich da ist, durchzuführen durch die Objektivität und dann erst in diesem vollständigen Dasein sich befriedigt zu finden." (HW 13: 133). Dabei will Hegel als Philosoph aber nicht stehen bleiben. Philosophisches Begreifen bliebe unvollständig, wenn weiterhin eine Trennung zwischen indvividuell-subjektiv Gewolltem, Sein-Sollenden und dem realen Sein bestünde. Er sucht die übergreifende Einheit, in der das (individuell) Gewollte und das (allgemein) Seiende jeweils enthalten sind, aber in einem übergreifenden Zusammenhang begriffen werden.
Aber zurück zur "Phänomenologie". Individualität und Weltlauf beziehen sich nun so aufeinander, dass wir im Weltlauf nichts nur einfach Geschehendes erkennen, sondern ihn als "Wirklichkeit des Allgemeinen" (HW 3: 290) begreifen und auf die Individualität gerade nicht verzichten, sondern sie als die "Verwirklichung des Ansichseienden" (ebd.) begreifen:
Wir sind nun bei der "Individualität, welche an und für sich selbst reell ist" (HW 3: 292) angelangt. In ihm durchdringen sich Individualität und Allgemeines.
Damit ist der Bildungsweg des selbstbewußten Geistes (vgl. HW 3: 31) noch nicht abgeschlossen. Wir haben ungefähr die Hälfte des Wegs beendet - die andere steht noch vor uns. Meine Darlegungen will ich aber hier (erst einmal ?) abbrechen. Vielleicht hilft ja dieser Einstieg, die Methode von Hegel näher verstanden zu haben, und nun selbst weiter zu studieren. Viel Freude dabei!
Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.
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