Werner Seppmann:

Fragmentiertes Denken oder Denken des Fragments?

Marginalen zur postmodernistischen Dialektik-Kritik

 



I. Dialektisches Denken hat im intellektuellen Gegenwartsklima alles andere als Hochkonjunktur. Vorherrschend ist eine konzeptionelle Selbstgenügsamkeit, die sich in ihrer Tendenz mit der Betrachtung des Fragmentarischen und Unabgeschlossenen zufrieden gibt. Das unmittelbar Erfahrbare, die "kleine Form" und der einzelne Moment gelten als die einzig "authentischen" Bezugspunkte philosophischen Denkens. Diese "Phänomenologie" der Erlebnisformen will die "Sache selbst" sprechen und in ihrer Unmittelbarkeit "glänzen" lassen, weil nur dadurch Zwischentöne wahrgenommen und Differenzierungsmomente registriert werden könnten. Um verschütteten und randständigen Subjektansprüchen zur Geltung zu bringen, werden "dezentrierte Erfahrungen" privilegiert, die mit Singularität und Unwiederholbarkeit gleichgesetzt werden; sie sollen als Kulminationspunkt eines "postmodernen Bewußtsein" gelten, das sich seiner eigenen Beschränktheit in Kongruenz zur Ziellosigkeit und angeblichen Unfaßbarkeit des gesellschaftlichen Geschehens bewußt sei: Die philosophische Zurückhaltung und die kultivierte Scheu vor der Festlegung, will als Spiegelbild einer prägenden Gegenwartserfahrung der Ambivalenz und Kontingenz verstanden werden. Es wird zur Legitimierung dieser Haltung als evident vorausgesetzt, daß die Menschen sich über ihre Stellung in der Welt keine verläßlichen Vorstellungen (mehr) machen könnten und die Annahme einer gemeinsamen Realitätsbasis als problematisch angesehen werden muß: Weil die Erfahrungsperspektive auschließlich individuell determiniert sei, könne ein vereinigendes Band zwischen den Individuen kaum existieren.

Es wird also nicht nur behauptet, daß es schwieriger geworden wäre eine krisengeprägte Gesellschaftswirklichkeit begrifflich zu erfassen, sondern der sozialen Realität wird prinzipiell ihre "Auflösung" attestiert. Weil die grundlegende Erfahrung in den postmodernen Lebensverhältnissen die Unübersichtlichkeit und das Unbestimmte sei, so versichert uns das philosophische Modebewußtsein, entziehe sie sich grundsätzlich einer gedanklichen Durchdringung: "Die Wirklichkeit ist in einem Maße destabilisiert ..., daß sie keinen Stoff mehr für Erfahrung gewährt". (J.-F. Lyotard) Es solle deshalb Abschied von der Idee eines einheitlichen Erfahrungsfundamentes genommen werden und stattdessen eine "alternative" Reflexionsform kultiviert werden, "die Vielfalt betont, an Fragmenten verweilt und auf Entzauberung der großen Synthesen setzt". (B. Giesen) Auszugehen sei von einem Kosmos pluraler Vielheiten, der mit der Vorstellung eines rein subjektivistischen Status jeder Erfahrung korrespondiere. Die philosophische und wissenschaftliche Rede solle sich deshalb von der Vorstellung einer "Inkommensurabilität der Wirklichkeiten" (W. Welsch) leiten lassen: "Das soziale Band", so Welsch weiter, sei "ein Gewebe, in dem sich eine unbestimmte Zahl von Sprachspielen kreuzen, die unterschiedlichen Regeln gehorchen." Als nicht mehr erklärungsbedürftig gilt auf dieser erkenntnisrelativistischen Grundlage das Zauberwort "Virtualität", sofern damit gemeint ist, "daß wir nicht mehr in ‚der’ Wirklichkeit leben oder ihr gegenüber gestellt sind, sondern daß wir offenbar längst erfolgreich mit einer Vielzahl von Wirklichkeiten operieren, die durchaus gleichwertig sein können." (N. Bolz)

Bei diesen Festlegungen bleibt der hegemoniale Diskurs jedoch nicht stehen. Er geht einen entscheidenden Schritt weiter und verdichtet diese zunächst einmal entkenntnisskeptischen Positionen zu normativen Weltbild-Postulaten:

  • Die Behauptung einer Unerkennbarkeit der Welt wird mit der Festlegung einer prinzipiellen Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge komplettiert: "Da ‚die wahre Welt zur Fabel geworden ist’, gibt es kein wahres Sein mehr, daß sie zu Lüge und Falschheit degradieren könnte." (G. Vattimo)
  • Dieser rein subjektiven Bedeutung der Erkenntnis wird komplettierend noch die Behauptung einer undurchdringlichen Vermengung von Realität und Illusion an die Seite gestellt: "Der Sinn erscheint und spielt sich auf der Oberfläche ab." (G. Deleuze)

Wir sehen zunächst an diesen Beispielen, daß die Selbstverpflichtung zur theoretischen "Bescheidenheit" und Selbstbeschränkung vom Diskurs beständig unterlaufen wird: Sie dient vornehmlich als Fassade, um in ihrem Schutz, den harten Kern weltanschaulicher Grundüberzeugungen von der Vergeblichkeit jeglichen Erkenntnisbemühens und der Verwerflichkeit menschlichen Selbstbestimmungsbestrebens präjudizieren zu können!

Ihrem Selbstverständnis nach sind diese Positionen Ausdruck einer unhintergehbaren "Pluralität", die als Weltverfassung und normative Folie des Denkens gleichermaßen verstanden wird: "Sämtliche als ‘postmodern’ bekannt gewordenen Topoi - Ende der Meta-Erzählungen, Dispersion des Subjekts, Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Unsynthetisierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster - werden im Licht der Pluralität verständlich. Pluralität bildet auch die Leitlinie aller fälligen Transformationen überkommener Vorstellungen und Konzepte." (W. Welsch) Es wäre jedoch voreilig und wenig produktiv, den Begriff "Pluralität" allzu wörtlich zu nehmen und ihn mit vorbehaltloser intellektueller Vielfältigkeit zu übersetzen. Denn als legitim werden nur Denkmuster anerkannt, die sich eines objektivierenden Erkenntnisbemühens, ebenso wie einer reflexiven Grundhaltung entsagen.

Es wird vom postmodernistischen Diskurs der Anspruch erhoben, mit der Pluralitäts-Kategorie ein Gegenprinzip zur Vereinnahmung des Individuellen und Besonderen durch umfassende (totalisierende) Methodenansprüche installiert zu haben: Reklamiert wird eine "anti-totalitäre Option", die offensiv Partei für Vielheit ergreift und "allen alten und neuen Hegemonie-Anmaßungen entschieden entgegen" tritt (Welsch). Dieser "Abschied vom Prinzipiellen" ist an einen weltanschaulichen Skeptizismus gekoppelt, der sich durch die Behauptung legitimiert, daß jede begriffliche Anstrengung und jede sprachliche Verallgemeinerung das Singuläre auslöschen würde, weil jeder Modus vermittelnder Reflexion eine subsumierende Wirkung habe: Das Einzelne, das Subjekt, das individuelle Begehren usw. würden auf der Grundlage methodischer Stringenz nur noch als Funktion, bzw. als "abgeleitetes" Moment betrachtet und damit um seinen "Eigensinn" gebracht.

Weil kulturelle und soziale Phänomene sich durch eine kaum vermittelbare Singularität auszeichneten, führe zwangsläufig jeder intellektuelle Versuch die Unmittelbarkeit zu transformieren, zu einem "Zwangsverhältnis" und einem "Totalitätswahn" (Welsch), zu einer Unterordnung des Einmaligen und Unverwechselbaren unter ein verallgemeinerndes Prinzip. Als Reaktion auf die angeblichen "Anmaßungen" interpretierenden, also Zusammenhänge rekonstruierenden und Kausalitätsstrukturen thematisierenden Vorgehens, solle sich ein "postmodernes" Denken allen Erklärungsversuchen entsagen und stattdessen sich mit der Beschreibung eines alltagsweltlichen Unmittelbarkeitshorizonts zufrieden geben.

Schon in dieser Positionierung, ist ein kaum überwindbarer Selbstwiderspruch der postmodernistischen Rede zu erkennen: Es werden "Maximen" formuliert, die als wohlfeile Waffen gegen die theoretischen Gegner in Stellung gebracht werden, denen das "postmoderne Denken" sich selbst zu unterwerfen jedoch nicht bereit ist - und um den Preis der Selbstnegation auch nicht bereit sein kann. Denn jede Rede, sei es die alltägliche oder die "philosophische", lebt von der Abstraktion, von der Verwendung von Allgemeinbegriffen. Mehrschichtige Verallgemeinerungen sind schon bei so einfach erscheinenden Alltagsbegriffen wie etwa "Haus" nötig. Abstrahiert wird bei seiner Verwendung von der Größe, der materiellen Beschaffenheit, der architektonischen Form, des Erhaltungszustandes eines Bauwerks usw. Werden jedoch, so ist zu fragen, durch diese Abstraktionen die Besonderheiten eines konkreten Hauses eliminiert, die Tatsache auch nur in Frage gestellt, daß es sich um eine häßliche (oder gelungene) Architektur handelt, daß das Haus ein rotes Dach und grüne Fenster hat? Oder wird durch die Verwendung dieses verallgemeinernden Begriffes etwa verhindert, daß seinem Zweck gemäß (wenn diese "repressive Konstruktion" einmal verwendet werden darf) Menschen darin wohnen können?

Schon an diesem simplen Beispiel ist zu erkennen, daß die "Postmodernen", wenn sie auch nur einmal ihr Denken selbst ernst nehmen würden, unverzüglich die Formulierung von theoretischen Schablonen und intellektuellen Verhaltensstandards einstellen müßten. Denn was stellt ihre Rede von den "großen Erzählungen" und der Verwerflichkeit eines objektivierenden Erkenntnisanspruchs eigentlich anderes, als extrem nivellierende Verallgemeinerungen dar? Es ist natürlich ein unvermeidlicher Verstoß gegen die eigenen Maßstäbe und Merksätze, denn ohne diesen Bruch mit den eigenen Ansprüchen, ohne Abstraktionen und zumindest partiellen Verallgemeinerungen müßte sich der Postmodernismus auf das Stammeln und andere vorbegriffliche Artikulationsformen beschränken.

II. Zweifellos ist der "ideelle Gesamtgegner" des Diskurs-Denkens der Marxismus – auch dort, wo es nicht ausdrücklich offen gelegt wird. Und es liegt auf der Hand, daß er in gewisser Weise ein "dankbarer" Bezugspunkt ist. Denn die "Meisterdenker" des Postmodernismus konnten ohne große Anstrengung zur Illustration ihrer Auffassungen vom vereinnahmenden und subsumierenden Charakter der "Meta-Erzählungen" auf eine historische Marxismus-Variante verweisen, in der den sozio-ökonomischen Strukturen die Funktion eines automatischen Subjekts zugeschrieben wurde. Ironischerweise war es dieses Theorie-Verständnis, daß sie einst selbst vertreten hatten: Die postmodernistischen Vor-Denker kolportieren ein mechanistisches Gesellschaftsverständnis aus ihrer eigenen intellektuellen Vergangenheit, indem "gar nicht vorkommt, was Marx unter materialistischer Geschichtsauffassung verstanden wissen wollte" (O. Negt). Solche Verstrickungen bilden auch die Basis einer verbreiteten Bereitschaft zur Akzeptanz des Postmodernismus: "Die Absurdität der postmodernen Argumentation wird oftmals nicht erkannt, aufgrund eines schlechten Gewissens, herrührend aus der Erinnerung daran, daß man einmal [selbst] nicht frei von Dogmatismus war". (R. Wahsner)

Warum das präsentierte Schreckensgespenst "Marxismus" als Inbegriff einer verachtenswürdigen "große Erzählung" jedoch nur in einer vermittelten Weise etwas mit der dialektischen Methode und einem historisch-materialistischem Wirklichkeitsverständnis zu tun hat, wird deutlich, wenn auch nur ein oberflächlicher Blick auf deren einschlägigen Selbstbegründungstexte geworfen wird. Denn dort werden genau solche Fragen problematisiert, die den Postmodernismus umtreiben. "Wir können die Bewegung nicht vorstellen, ausdrücken, ausmessen, abbilden, ohne das kontinuierliche zu unterbrechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, ohne das Lebendige zu zerstückeln, abzutöten. Die Abbildung der Bewegung durch das Denken ist immer eine Vergröberung, ein Abtöten – und nicht nur die Abbildung durch das Denken, sondern auch durch die Empfindung, und nicht nur die Abbildung der Bewegung, sondern auch die jedes Begriffs." (W. I. Lenin) Schon durch dieses Zitat dürfte deutlich werden, daß die Antworten im historisch-materialistischen Diskurs differenzierter ausfallen, als es der postmodernistische Katechismus nahe legt. Und das wird noch deutlicher, wenn den gängigen Vorwürfen unmittelbar die Selbstbegründungen dialektischen Denkens gegenüber gestellt werden:

  • Der totalisierende Erkenntnisanspruch dialektischen Denkens, so wird behauptet, verleite zum Schematismus und ordne die Realität einem abstrakten Begriffsraster unter! Das historisch-dialektische Methodenverständnis sieht jedoch anders aus: Marx greift schon in der "Kritik des Hegelschen Staatsrecht. Einleitung" dieses Problem auf, und distanziert sich von einer abstrakten Vorgehensweise, die aus der Hegelschen "Systematisierung" der Dialektik resultiert: "Dieses Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu erfassen."
  • Eine ebenso geringe theoriegeschichtliche Plausibilität besitzt ein weiterer zentraler Vorwurf: Der Marxismus, so hören wir, ignoriere systematisch die Eigenbedeutung des subjektiven Faktors gegenüber den strukturellen Faktoren! In den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von Marx lesen wir zu diesem Thema etwas ganz anderes: "Es ist vor allen zu vermeiden, die ‚Gesellschaft’ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen."

Schon durch diese beiden Antworten auf virulente Vorbehalte (denen noch viele andere an die Seite gestellt werden könnten) dürfte deutlich werden, daß es mit der Substantialität der postmodernistischen Dialektik- und Marxismus-Kritik nicht weit her ist. Dennoch wäre es voreilig, aus diesen kontrastierenden Reflexionsmustern zu schließen, daß der inhaltliche Kern der Einwände schon vom Tisch wäre. Denn wenn wir uns die Forschungspraxis anschauen, die sich der dialektischen Methode verpflichtet fühlt, müssen wir konstatieren, daß die Kritiker nicht a priori unrecht haben, zumal die Gefahr eines methodischen Schematismus ja schon bei Hegel beginnt und für dessen Systemdenken es geradezu konstitutiv ist, daß er die dialektischen Selbstverpflichtungen der Dynamik seines Systems opfert. Und nicht besser sieht es in vielen Fällen bei den materialistischen Erben Hegels aus. Denn ohne Frage hat es eine theoriegeschichtlich wirksame Tendenz des Ableitungsdenkens gegeben: Das Einzelne wurde als ein bloßes Moment des Ganzen begriffen und die "Besonderheiten" einer allgemeinen Tendenz untergeordnet. Selbst in der Opposition zu diesem Reduktionismus lebte eine objektivistische Grundtendenz fort, wie noch Georg Lukács` fundamentale Positionsbestimmung in "Geschichte und Klassenbewußtsein" deutlich erkennen läßt: "Die Kategorie der Totalität, die allseitige bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen hat." Wir sehen hier, wie die oppositionelle Haltung zum Ökonomismus und mechanisch-materialistischen Determinismus zu einer Überdehnung des Totalitätsbegriffes führt.

Einen Kern von Berechtigung hat auch die Problematisierung undialektischen Fortschrittsdenken und eines abstrakten Vernunftpostulats. Während die Progressionsvorstellungen oft mit einem sachlich unangemessenen Notwendigkeitspathos auftraten, wurde die Vernunft-Kategorie zu selten in der dem materialistischen Denken einzig adäquaten Weise aus den konkreten Lebenskonstellationen heraus entwickelt, sondern der Reflexion des historischen Prozesses als Schema voraus gesetzt. Bedenkenswert ist ebenso die "postmoderne" Problematisierung eingefahrener Denkmuster traditioneller Aufklärungsphilosophie, z.B die Überzeugung, daß die Welt dem Menschen grenzenlos verfügbar wäre! Doch selten reicht das postmodernistische Interesse so weit, um das schon erreiche Niveau der Selbstkritik des Emanzipationsdenkens überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen für die eigene Problemsicht zu ziehen. Das scheint nicht zuletzt deshalb geboten, weil der Postmodernismus auf einem Auge blind zu sein scheint: Während ein kritisches Gegenwartsbewußtsein beispielsweise immun gegen die Illusion einer Fortschrittlichkeit jeder technologischen Entwicklung geworden ist, wird vom "postmodernen Denken" die kapitalistische Entwicklungsdynamik einschließlich ihrer antizivilisatorischen Paradoxien stillschweigend akzeptiert: Die dominante "Erzählung" der kapitalistischen Akkumulationsdynamik mit ihrer aggressiven Ausbreitungs- und Vereinnahmungstendenz entzieht sich ihrer "subversiven" Aufmerksamkeit!

Die geringe "Reichweite" des postmodernistischen "Ansatzes" manifestiert sich schon in einer Charakterisierung der "Moderne", bei der Ursache und Wirkung verwechselt werden. Ihre Pathologien und Fragwürdigkeiten, die der Postmodernismus in der Tendenz richtig (wenn auch mit einem affirmativen Tendenz) beschreibt, werden nicht als Probleme gesellschaftlicher Organisationsstrukturen, sondern als unmittelbare Konsequenz des Aufklärungsdenkens angesehen. Der Anspruch, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wird als die eigentliche Ursache eines selbstzerstörerischen Praktizismus interpretiert.

Obwohl der Postmodernismus die Finger in offene Wunden historisch-materialistischen "Erzählens" legt, führt die mit fundamentalistischem Pathos vorgetragene Kritik am dialektischen Denken vor allem ins Leere, weil theoriegeschichtliche Zwischenphasen und Extrempositionen, die selten nur ihren Kern tangieren, für das Ganze genommen werden. Die Frage drängt sich auf, ob eine falsche Inanspruchnahme historisch-dialektischen Denkens ihre methodischen Prinzipen selbst tangiert? Die Antwort kann nicht anders, als in anderen Wissenschaftsbereichen ausfallen: Stellt eine falsch durchgeführte Gleichung die mathematische Logik in Frage oder mahnt sie nicht vielmehr ihre korrekte Anwendung an? Aus der Instrumentalisierung der Vernunft beispielsweise, folgt nicht zwingend ihre Verabschiedung, sondern die Notwendigkeit daran zu erinnern, daß "sie ihren Ort im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" hat (Th. Metscher), also kein weltloses Abstraktum darstellt und die Erfassung ihrer konkreten Bedeutung nur durch ihre "Ableitung aus Verhältnissen materiellen Seins" (Metscher) möglich ist.

Eine ernsthafte Kritik an der Methode der konkreten Dialektik müßte sich jedenfalls der Herausforderung ihres ganzen Reflexionsumfangs stellen; sie sollte vor allen Dingen bemüht sein, nicht in jene Falle zu tappen, die schon Hegel mit seinen Universalitätsanspruch aufgestellt hat: Kritik am (historisch-)dialektischen Denken verfehlt ihr Ziel, wenn sie selbst dem "Allgemeinen" verhaftet bleibt und die spezifische Qualität der Dialektik in den verschiedenen Seinsbereichen und ihren jeweils besonderen Theoriemustern ihre Aufmerksamkeit verweigert.

III. Will die Beschäftigung mit der Dialektik ihren Gegenstand nicht verfehlen, führt an der Berücksichtigung ihres immanenten Differenzierungsanspruches kein Weg vorbei: Sie ist zwar im Sinne einer von Engels formulierten Definition Bewegungsform von Natur, Geschichte und des Denkens gleichermaßen, jedoch existiert diese Einheit nur auf der Basis einer inhaltlichen Präzisierung, die um so wichtiger wird, je abstrakter und "weiträumiger" die Kategorien der Dialektik angewandt werden. Es ist von grundlegender Bedeutung, daß ihre Selbstbegründung - von Hegel ausgehend - in der Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Welt stattgefunden hat und in ihrer doppelten Bedeutung als Bewegungsgesetz der Wirklichkeit und des diese Wirklichkeit widerspiegelnden Denkens begriffen wird. Schon bei Hegel taucht am Horizont die Kategorie Arbeit, als das die Dialektik des Sozialen konstituierende Moment auf. Jedoch "klammert" er diesen konkret-historischen Begründungskontext gleichzeitig wieder ein, um Dialektik als umfassende Methode anwenden zu können. Sie wurde von ihm als "allgemeine" Verfahrensweise gehandhabt, ohne daß er jedoch ihren Doppelcharakter gänzlich vernachlässigt hätte.

Marx knüpft an das Hegelsche Dialektik an, um es jedoch gleichzeitig zu radikalisieren: Die Welt repräsentiert für ihn eine Einheit, die aber eine entscheidende Differenz aufweist, zwischen der (geschichtlichen) Welt die die Menschen "selbst gemacht" und einer Natur-Geschichte, die sie "nicht gemacht" haben. Marx unterscheidet nicht nur zwischen Geschichte und objektiver Natur, sondern er begreift diesen Unterschied auch als qualitativen Bruch.

Aus dieser Akzentuierung ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Konzeption der Dialektik: Es ist nicht übertrieben von einer "kopernikanischen Wende" zu sprechen, weil nun zum entscheidenden Bezugspunkt, die durch die handelnden Subjekte konstituierte Gesetzmäßigkeit des Sozialen wird. Durch die Arbeitspraxis werden soziale Prozesse mit kausalem Charakter in Gang gesetzt, die sich jedoch qualitativ von der Naturkausalität unterscheiden: Der handelnde Mensch bezieht sich auf eine Objektivität besonderer Art: In instruktiver Weise hat Max Adler diese Differenzmomente der objektiven Reaktionsmuster an den drei Kausalitätsformen mechanische, biologischen und soziale Kausalität expliziert: Bewegung und Veränderung vollziehen sich im Wirkungsbereich der Naturkausalität auf rein mechanische Weise. Wenn ein Buch mit der Hand vom Tisch gestoßen wird, handelt es sich um einen rein mechanischen Effekt. Die biologische Kausalität, unterscheidet sich von diesem unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Modell schon deutlich: Wird ein Mensch mit einer Nadel gestochen, reagiert er auf diesen Reiz mit einer Bewegung oder der Artikulation seines Schmerzes. Noch größer ist der Unterschied zur sozialen Kausalität. Wenn eine Veränderung innerhalb einer sozialen Relation bewirkt werden soll, kann das durch rein kommunikative Aktivitäten erreicht werden. Jemanden kann durch ein Kommando oder ein Signal etwas übermittelt werden, ohne daß ein unmittelbaren Kontakt existiert. Trotzdem kann von einer kausalen Qualität dieser bewußtseinsvermittelten Sozialbeziehung gesprochen werden.

Die Kategorie des Bewußtseins, die jetzt im Mittelpunkt steht, ist in entscheidenden Punkten etwas anderes als die Bewußtseins-Kategorie der philosophischen Tradition. Es ist eine sozial-ontologische und keine erkenntnistheoretische Größe; es ist kein isoliertes Bewußtsein mehr, kein Bewußtsein an sich, das bei Kant, sehr dezidiert bei Fichte und in gewisser Weise auch noch bei Hegel eine Rolle spielt. Noch weniger ist es mit den abstrakten Zurichtungen in den phänomenologischen Bewußtseinstheorien des XX. Jahrhunderts vergleichbar, denn es ist in zweifacher Weise auf Objektivität bezogen. Als soziales Bewußtsein reagiert es auf die objektiven Lebensumstände und besitzt durch seine antizipatorischen Fähigkeiten gleichzeitig eine konstitutive Rolle im Prozeß der sozialen Selbsterzeugung menschlicher Lebensverhältnisse. Ist die besondere Qualität des gesellschaftlichen Seins nur durch die konstituierende Rolle des handelnden Menschen zu erfassen, so ist der tätige Mensch wiederum nicht ohne sein antizipatorisches Verhalten, d.h. seine Fähigkeit zu begreifen, die Dinge zu reflektieren und daraus Handlungsintentionen zu entwickeln: Arbeit als antizipierende (bewusstseinsvermittelte) Gestaltung der Lebensverhältnisse wird – wie ausführlich Georg Lukács in seiner "Ontologie des gesellschaftlichen Seins" gezeigt hat - zum Modell jeglicher gesellschaftlichen Praxis; sie ist die treibende Kraft bei der Selbstkonstituion des Sozialen. Als Vermittlungsprinzip bildet sie das Zentrum der Subjekt-Objekt-Dialektik: Sie bezieht sich auf Vergangenes und Gegebenes und konstituiert dabei etwas Neues mit Auswirkungen auf die Zukunft. Die Menschen sind zwar abhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, haben diese aber gleichzeitig durch ihr Handeln hervorgebracht. Sie sind gleichzeitig »Produkte« und Schöpfer ihrer Lebensumstände: »Wie die Gesellschaft den Menschen produziert, ist sie durch ihn produziert.« (Marx)

Suspendiert ist durch diese sozial-ontologische Sichtweise nicht die Tatsache, daß Natur die Voraussetzung der Geschichte und der Mensch ein "gesellschaftliches Naturwesen" (Marx) ist; sie ist mitgesetzt: Die menschliche Tätigkeit bleibt an die objektiven Bewegungsformen der Natur gebunden, jedoch ist es gerade die objektive Regelhaftigkeit der Natur die es den Menschen ermöglicht sie seinen eigenen Zwecken einzuverleiben. Er bringt die Naturgesetzlichkeiten mit seinen eigenen Bedürfnissen in Übereinstimmung. Das Ergebnis dieser bewusstseinsvermittelten Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur ist die Konstitution einer (sozialen) Seinssphäre mit eigenen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten. Dabei kommt den Transformationsleistungen der menschlichen Arbeit eine besondere Rolle zu, weil das "Wesen der Arbeit darin besteht, daß sie über dieses Gebanntsein der Lebewesen in die biologische Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt hinausgeht. Nicht die Vollendung der Produkte bildet das wesentlich trennende Moment, sondern die Rolle des Bewußtseins, das gerade hier aufhört, ein bloßes Epiphänomenon der biologischen Reproduktion zu sein: ein Produkt ist, sagt Marx, ein Resultat, das beim Beginn des Prozesses ‚schon in der Vorstellung des Arbeiters’, also schon ideell vorhanden war." (G. Lukács)

Die Betonung der sozial-ontologischen Fundierung der Dialektik bedeutet jedoch nicht die dialektischen Bewegungsformen der Natur zu ignorieren, wohl aber der qualitativen Differenz zwischen der Natur- und der Gesellschaftsdialektik besondere Aufmerksamkeit zu schenken: Das Verhältnis des dialektischen Denkens zu den Bewegungsformen der Natur (ebenso wie zu den Forschungs- und Ordnungsprinzipien der Naturwissenschaft) muß als ein Außenverhältnis begriffen werden; sie kann nicht als die privilegierte Methode bei der Erfassung der Naturprozesse fungieren: Die Vorgehensweise der Naturforschung ist logisch-rational, durch eine "verstandesmäßige" Vorgehensweise (im Hegelschen Sinne) geprägt, die bestimmte Aspekte und Wechselwirkungen ausschließt; sie bezieht sich auf Teilmomente und künstlich isolierte Ursache-Wirkung-Komplexe. Dieser Organisation des Beobachtungsprozesses liegen theoretische Grundannahmen (oft auch implizite materialistische) zugrunde, die jedoch noch keine dialektischen sind. Beim jetzigen Stand naturwissenschaftlicher Praxis fällt Dialektik erst die nachgeordnete Aufgabe interpretativer Rekonstruktion realer, aber experimentell nicht unmittelbar zu erschließender Zusammenhänge zu; sie leistet ihren erklärenden, die Dialektik der Natur erschließenden Beitrag, nachdem der Forschungsprozeß abgeschlossen ist. Leo Kofler hat diesen Modus dialektischer Reflexion als eine Form der Fremderkenntnis bezeichnet.

Die Rolle der Dialektik im sozialen Erkenntnisprozeß ist in diesem Verständnis eine grundsätzlich andere: Dialektische Reflexion ist ein Moment gesellschaftlicher Selbsterkenntnis: Weil die Subjekte gleichermaßen als aktive und passive Elemente des gesellschaftlichen Geschehens fungieren, sind theoretische Erkenntnisakte, ebenso wie die auf praktische Aufgaben zielenden Analyseschritte, selbst Momente des gesellschaftlichen Ganzen: "Denken und Sein sind also zwar unterschieden, aber zu gleich in Einheit miteinander", heißt es beim Marx der "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte". Deshalb kann Denken "für die Dialektik nicht bloß bedeuten, nachträglich das bereits Vollzogene anschauen", sondern es ist in Rechnung zu stellen, daß sie "selbst ein Faktor im Prozeß, ein ununterbrochenes, für alle Geschichte wesenhaftes Sichselbstbegreifen und damit aktiven Teilnahme am Geschehen, eben Tätigkeit oder Erzeugung" ist. (L. Kofler)

IV. Auf der Grundlage eines Verständnisses des sozialen Geschehens als wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Subjekt und Objekt kann Individuelles kaum mehr unproblematisch einer allgemeinen Bewegungstendenz subsumiert werden, weil das (gesellschaftlich) Allgemeine, genau so wenig ohne handelnde Subjekte existiert, wie eine individuelle Existenz jenseits des sozialen Kontextes auch nur denkbar ist. Jedoch verbietet eine solche sozial-ontologische Sichtweise auch die entgegengesetzte Einseitigkeit einer fixierenden Betrachtung der Einzelerscheinung und des Individuellen. Die Konstitutionsstruktur des Sozialen selbst legt die Einsicht nahe, daß nur durch die theoretische "Vermittlung" sich das Einzelne überhaupt erst in seiner Einzelheit und Besonderung erschließen läßt: Individuelles und Besonderes können nur begriffen werden als Differenz zu einem Allgemeinen und in Beziehung zu ihm. Das ist schon eine logische Notwendigkeit und eine sachliche allemal. Denn die Beziehungen zwischen ihnen sind nicht nur eine Sache formaler Relationalität, sondern gegenseitiger Beeinflussung, auch konstitutiver Abhängigkeit.

Ein die einzelnen Momente isolierendes und überhöhendes Vorgehen erreicht das Gegenteil des intendierten; es ignoriert den realen Reichtum der Momente, die Vielgestaltigkeit der Vermittlungen und die Spezifik der Konkretheit: "Vom isolierten Individuum der bürgerlichen Gesellschaft aus ist das Leben (die Welt) unerreichbar." (G. Lukács) Jenseits einer Vorstellung vom Zusammenhang, wird den Erscheinungsformen des Einzelnen wird der Status von "Tatsachen" zugesprochen, die nur noch registriert und bestaunt, jedoch nicht mehr verstanden werden können. Es werden bestimmte Momente des Einzelnen überhöht, seine ganze Fülle jedoch vernachlässigt. Vor allen Dingen bleibt durch diese faktische Festschreibung unberücksichtigt, daß das Einzelne - und zwar in den verschiedenen Konstitutionszusammenhängen in höchst unterschiedlicher Weise - Bewegtes und Bewegendes zugleich ist; seine Bedeutung ist von der realen Prozessualität nicht zu trennen

Da Individuelles und Allgemeines nicht in einem polaren Gegensatz zueinander stehen, kann auch das Erkenntnisbemühen, wenn es einen Sachverhalt oder den differenzierten Charakter einer Einzelheit angemessen begreifen will, nicht von den realen Vermittlungsstrukturen absehen. Selbstreflexives Denken muß berücksichtigen, daß "das Einzelne gerade als Einzelnes desto sicherer und wahrheitsgemäßer erkannt wird ..., je reicher und tiefer seine Vermittlungen zu dem Allgemeinen und Besonderen aufgedeckt werden." (G. Lukács)

Da der einzelne Moment nicht in einer statischen Abgeschiedenheit, sondern nur innerhalb einer realen Prozeßzualität existiert, muß, wer individuelles begreifen will, das Allgemeine thematisieren! Oder um es mit Bloch zu sagen: Solange "kein erfragter Allgemeinbegriff konkret vorhandener Art die Singularitäten durchleuchtet, bleiben sie zerstreuter, unbegriffener als je." Das bedeutet aber auch, daß für ein realistisches Denken der Bezug auf das Allgemeine niemals Selbstzweck, sondern der "Umweg" ist, Einzelnes und Besonderes zu begreifen: Während Marx in den "Grundrissen" betont, daß über die Einheit ... die wesentliche Verschiedenheit nicht vergessen werden darf, notiert Lenin in den "Philosophischen Heften": "Die Bedeutung des Allgemeinen ist widersprechend: es ist tot, es ist nicht rein, es ist nicht vollständig etc. etc, ab es ist auch nur eine Stufe zur Erkenntnis des Konkreten". Schon bei Hegel will die Dialektik "Kritik und System sein, ist [sie] hin und her gerissen zwischen der Liebe zum einzelnen Ding und dem Ansinnen, sich seiner philosophisch (und d. h. allgemein zu bemächtigen ... Diese Einsicht wird systematisch getragen von der Einsicht in die unfertige, unabgeschlossene und veränderbare Struktur von Bedeutungen." (Ch. Demmerling)

Schon deshalb bedeutet die vom dialektischen Denken thematisierte wechselseitige Bezüglichkeit von Teil und Ganzen, Subjekt und Objekt, also Mensch und Gesellschaft jedoch nicht, daß sie im Prozeß ihrer wechselseitigen Durchdringung zur "Identität" gelangen. Das dialektisch Allgemeine als konkrete Totalität "achtet" das Besondere, ohne es sachfremd zu privilegieren; dialektische Reflexion ist also das Gegenteil einer Verfahrensweise, von der Adorno behauptet, daß sie "kein Partikulares" ertrüge. Fast will es scheinen, als ob die "rationalitätskritische" Selbstreflexivität der Dialektik bei Adorno nur eine intellektuelle Inszenierung mit dem Zweck ist, die impliziten Absichten zu verbergen: Ihre "Dekonstruktion" und Reformulierung als "negative", dient der Annäherung der Dialektik an geschichtsphilosophische Gründüberzeugungen von einer Machtverfallenheit allen menschlichen Denkens und Handelns, wie sie in der "Dialektik der Aufklärung", durchaus im nietzscheanischen Sinne von Horkheimer und Adorno formuliert wurden. Die Auffassung von einer "Gewalt des identifizierenden Denkens", von der in Adornos "Negativer Dialektik" die Rede ist, korrespondiert mit der frühren Auffassung, daß "die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, ... sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit" erhebt (Horkheimer/Adorno).

Wo Adorno generalisiert, differenziert das historisch-materialistische Denken. Sein Einheitsbegriff berücksichtigt die konkrete Gliederung der historischen Totalität: Statt absolute "Identität" anzustreben, fragt es nach der inneren Bezüglichkeit seiner verschiedenen, diese Ganzheit konstituierenden Elemente. Dialektisches Denken geht zwar von der Existenz einer einheitlichen Vermittlungsbasis für alle Seinskomplexe aus; der dieser Denkvoraussetzung zugrunde liegende Einheitsbegriff ist jedoch ein höchst vermittelter: Er ist Ausdruck einer realen Totalität, die aus höchst widersprüchlichen Elementen bestehen kann. Mit der dialektisch gefassten "Einheit" ist deshalb nicht Gleichförmigkeit und Nivellierung, sondern ein konkretes Aufeinander-Bezogen-Sein gemeint, das auch die formale Zusammengehörigkeit des inhaltlich Disparaten und Widerstreitenden umfaßt (Kapital und Arbeit sind z.B. Widerspruchsprinzipien innerhalb der ökonomischen Gesellschaftsformation Kapitalismus). Für eine gesellschaftstheoretische Fragestellung ist der Gesamtzusammenhang nicht der unmittelbare Bezugspunkt, sondern ein notwendigerweise mitgesetzter "Hintergrund" des Reflexionsprozesses.

Obwohl die einzelnen Momente funktional in den sozialen Kontext eingebunden sind, besitzen sie nicht nur eine eigenständige Dynamik, sondern enthalten auch Bedeutungsmomente, die nicht restlos im "Ganzen" aufgehen. Es werden deshalb historisch-materialistisch nicht, wie Lyotard unterstellt, "Begriff und Sinnlichkeit" aufeinander reduziert, sondern in ihrer jeweils eigenständigen Bedeutung reflektiert. Darüber hinausgehend werden auch die Voraussetzungen thematisiert, durch die dieses Eigenständige sichtbar (und auf einer "praxisphilosophischen" Ebene zu Geltung gebracht) werden kann. Jede Wissenschaft, jede Philosophie, jeder künstlerische Aktivität ist gut beraten, ihren jeweiligen Erkenntnishorizont und ihre spezifischen Wahrnehmungsmöglichkeiten im Auge zu behalten. Auf gesellschaftliche Sachverhalte bezogenes wissenschaftliches Erkennen beispielsweise kann nicht beabsichtigen, ein Bild der Lebenswirklichkeit in seiner ganzen "Fülle" anzubieten, sondern sich vorrangig "nur" der Aufgabe verpflichtet fühlen, deren allgemeine Tendenzen und ihren dynamischen Charakter herauszuarbeiten. Aus dieser "Selbstbeschränkung" folgt die Anerkennung der Sinnhaftigkeit anderer, beispielsweise künstlerischer Zugangsweisen. Es bleibt dem Postmodernismus vorbehalten, einen großen Teil seiner intellektuellen Energie in die Diskriminierung der realen Vielgestaltigkeit von Reflexions- und Verarbeitungsweisen zu investieren: Um seiner intendierten Trennung von Gefühl und Verstand Geltung zu verschaffen, wird dem ästhetischen "Erleben" eine Monopolstellung eingeräumt. Praktiziert wird das soeben noch verpönte: die Hierarchisierung der Wissensformen.

Dem historisch-materialistischen Denken dagegen ist die Einsicht in die Notwendigkeit divergierender Erlebnis- und Zugangsformen eingeschrieben, weil die diversen Formen der "Weltaneignung" ihre eigenen Regeln und Wahrnehmungspräferenzen besitzen und deshalb "keine Kopie eines Wirklichkeitsausschnittes ... das wesentliche Leben des Ganzen getreu widerspiegeln" kann (Lukács). Daraus wird jedoch nicht, wie es diskurs-philosophisch üblich geworden ist, auf eine Auflösung der Realität in disparate, unvermittelte Segmente geschlossen. Das Aneignungsverständnis bleibt von der Einsicht geprägt, daß die differenten Zugangsweisen Variationen über das gleiche Thema anbieten; die Akzentuierungen, Bearbeitungsweisen und Darstellungsmodi "gedankliche Widerspiegelungen derselben objektiven Wirklichkeit" darstellen (Lukács).

Daß gleichermaßen "jedes Einzelne [nur] unvollständig in das Allgemeine eingeht" und durch das "Allgemeine" nicht jede Regung des Besonderen determiniert wird, ist keine Entdeckung des Postmodernismus. Dieser Satz, daß "jedes Einzelne [nur] unvollständig in das Allgemeine eingeht", gehört zum ABC-Wissen dialektischen Denkens: In dieser zitierten Fassung stammt er von Lenin, könnte jedoch durch Dutzende weiterer Belege von Hegel bis Marx, Lukács, Bloch oder Kofler ergänzt werden. Auf der Ebene methodologischer Abstraktion beschreibt Gottfried Stiehler Teil und Ganzes als selbständige Momente, deren Selbständigkeit aber relativ ist. Denn die Existenz der einzelnen Komplexe und ihre Bewegungsformen "sind durch die Wesensmerkmale des Ganzen bestimmt. Dieses wiederum besitzt keine Existenz ohne die Teile, es ist keine für sich, getrennt von den Teilen existierende Größe. Daher ist auch die Selbständigkeit des Ganzen relativ, es ist an die Existenz und die Bewegung der Teile gebunden."

Gleichzeitig bleibt dem dialektischen Denken bewußt, daß auch die Unverwechselbarkeit des Einzelnen, durch einen realen Zusammenhang konstituiert und ohne dessen gedankliche In-Rechnung-Stellung nicht erfaßt werden kann: "Ein Glas ist unstreitig sowohl ein Glaszylinder als auch ein Trinkgefäß. Das Glas besitzt aber nicht nur diese zwei Merkmale oder Eigenschaften oder Seiten, sondern eine unendliche Zahl anderer Merkmale, Eigenschaften, Seiten, Wechselbeziehungen und ‚Vermittlungen‘ mit der gesamten übrigen Welt. Ein Glas ist ein schwerer Gegenstand, der ein Wurfinstrument sein kann. Ein Glas kann als Briefbeschwerer, als Behälter für einen gefangenen Schmetterling dienen ... Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und ‚Vermittlungen‘ erfassen und erforschen." (W. I. Lenin)

Jedoch ist es für das dialektische Denken ebenso evident, daß das Einzelne nicht in der Vermittlung aufgeht, sich niemals "restlos als Kreuzungs- und Kombinationspunkt der Besonderheiten und Allgemeinheiten fassen oder gar aus ihnen einfach ‘ableiten’ [läßt]. Es bleibt immer ein Rest über, der weder deduzierbar noch subsumierbar ist. Dieser steht aber um so weniger dem anderswie Erkannten als krasser unaufhebbarer Zufall gegenüber, je ausführlicher und genauer die ... vermittelnden Besonderheiten und Allgemeinheiten erkannt werden." (G. Lukács)

Und was behauptet dagegen der "postmoderne" Meisterphilosoph? Es gibt überhaupt keine nachvollziehbare Vermittlung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, wir müssen uns damit abfinden sie als Polaritäten stehen zu lassen! Es solle deshalb das Trennende kultiviert und "jegliche Synthese" (I. Hassan) vermieden werden. Aber welchen philosophischen Erkenntniswert hat eine solche Festlegung? Lassen sich von dieser intellektuellen Basis ausgehend, die programmatischen Selbstansprüche des "postmodernen Denkens" überhaupt realisieren, können "Differenzen" eingeklagt werden, wenn die Bedingungen der Differenzierung (oder im Umkehrschluß auch der Nivellierung) ebenso unbekannt wie unbenannt bleiben? Das ist mehr als fraglich, denn durch die Idee einer isolierten Existenz des "Einzelnen" und "Besonderen" ist die Prägekraft des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs ja nicht aufgehoben.

V. Der Postmodernismus fordert Vielfalt und Mehrschichtigkeit anzuerkennen, praktiziert jedoch das Gegenteil. Er isoliert miteinander verflochtene Bestandteile eines Komplexes, spielt untrennbare Elemente der Wirklichkeit gegeneinander aus. Er benutzt in sachlich nicht gerechtfertigter Weise den Rekurs auf das Einzelne, nur um es gegen die Reflexion des Allgemeinen auszuspielen.

Damit versagt er jedoch vor seinen eigenen Anspruch den Besonderheiten und den Singularitäten gerecht zu werden. Denn dazu müßte ihre "Vermittlung", also die gedankliche Überschreitung des unmittelbar gegebenen erfolgen. Denn nur durch die Thematisierung, der durch die Existenz der Einzelmomente mitgesetzten Einfluß- und Prägefaktoren, können – wie schon angedeutet - ihr spezifischer Charakter und ihr "Eigensinn" begriffen werden. Die Thematisierung des Kontextes und der objektiven Beziehungsverhältnisse sind aus sachlichen Gründen zwingend, weil sich das einzelne Moment nur in der Reaktion auf seine "Umwelt" objektiviert und seine "Bestimmtheit" erlangt. In diesem Kontext gelten die gleichen Argumente, die in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens gegen die diversen positivistischen Verfahrensweisen vorgebracht wurden: Es existiert keine reine Unmittelbarkeit; jede Erkundung eines Sachverhaltes, setzt implizite oder explizite Vorannahmen über seine spezifischen Existenzbedingungen voraus.

"Fixierung" kann nur eine Zwischenstation bei der Erfassung eines Sachverhaltes sein; sie ist Arbeit des Verstandes und dient ebenso der "lebensweltlichen", wie auch der wissenschaftlichen Einordnung. Sie muß zerteilen, was organisch zusammengehört; jedoch hebt diese gedankliche Operation die Verbindungslinien und den Zusammenhang nicht auf. Die kategorisierende Begriffsarbeit (also der Denkvorgang des Identifizierens, um mit Adorno zu reden) ist immer nur eine Momentaufnahme. Die "Fest-Stellung" wird mit ihrer Setzung zugleich wieder in Frage gestellt, weil sie realiter Bestandteil eines dynamischen Prozesses ist, und deshalb mit der Setzung die Transformation und Aufhebung automatisch mitgedacht ist. Weil Nicht-Identität sich postwendend zur Geltung bringt, ist das Ganze dialektisch immer als "Identität der Identität und Nichtidentität" (Hegel) zu begreifen.

Diese Einsicht dürfte eine Kritik an der dialektischen Totalitätsbetrachtung nicht ignorieren, wenn sie ihrem Gegenstand auch nur einigermaßen gerecht werden will. Und noch weniger dürfte ein reflektiertes Verständnis der vermittelten Existenzbedingungen des Einzelnen von einem Denken ignoriert werden, das es als seine wichtigste Aufgabe ansieht, das Besondere, im Sinne unterdrückter Subjektansprüche wieder zur Geltung zu bringen. Statt seinen Intentionen gemäß zu reagieren, versandetet der "postmoderne" Aufbruch jedoch in einem quasi-romantischen Aufbegehren, das zwar als Widerstandhaltung gegen eine zum Selbstzweck gewordene Verwertungsrationalität und gegen die realkapitalistische Nivellierung des Menschen verstanden werden kann, aber als ein bloß reflexhafter, die gesellschaftlichen Ursachen nicht thematisierender "Protest", gestalt- und wirkungslos bleibt.

Daß er mit seiner methodischen "Selbstbeschränkung" und der Fetischisierung des Faktischen seine "subversiven" Selbstansprüche konterkariert, wird vom Postmodernismus jedoch nicht als Defizit empfunden. Denn, daß es "keine mögliche Vermittlung [gibt], wenn die unmittelbare Nähe des Eindrucks nicht verlassen" wird (E. Bloch), stellt für sein Geschäft subjektivistischer Selbstvergewisserung einen unverzichtbaren Vorteil dar: Sie ist die Voraussetzung für das Gefühls einer gestaltlosen "Freiheit", die von der Auseinandersetzung mit der Realität sich befreit glaubt. Wird der gesellschaftlichen Objektivität eine fetischisierte Selbständigkeit und irreversible Determinationskraft ("Tod des Subjekts") zugerechnet, so dem Individuum (tatsächlich handelt es sich um eine subjektivistische Wahrnehmungsform des "Individuellen") eine von den gesellschaftlichen Grundlagen lösgelöste und realitätsfremde "Einzigartig" angedichtet: Der faktischen Ordnung und Zweckrationalität wird "Selbstverwirklichung" als individualistischer und voraussetzungsloser Akt der "Selbstbefreiung" entgegen gesetzt. Das ist jedoch ein (intellektualistisch) ebenso leicht zu realisierender, wie gefährlicher Trugschluß, weil Selbstverwirklichung Selbstbestimmung voraussetzt also nicht so unvermittelt realisierbar ist, wie die subjektivistischen Illusionen der Selbstermächtigung es vortäuschen: Sie setzt die Erforschung der äußeren vom Individuum unabhängigen Gegebenheiten und ihrer Zusammenhänge voraus, ist darüber hinaus abhängig von der Feststellung der Möglichkeiten, in diese Zusammenhänge nach eigenen Zwecken verändernd und gestaltend eingreifen zu können.

Sich solchen sozial-ontologischen Reflexionsformen zu verweigern und die realen Entwicklungsprozesse zu ignorieren, bedeutet nur, sie blind zu akzeptieren, denn es ist eines der Geheimnisse der ideologischen Herrschaftsreproduktion in der Warengesellschaft, daß seine machtkonforme "Vermittlung" um so wirksamer ist, je unvermittelter sich das Individuum erlebt: Die narzißtische Selbstversenkung ist die Kehrseite der Universalisierung der warengesellschaftlichen Verfügbarkeit der Individuen. Die Hilflosigkeit des Postmodernismus gegenüber solchen ideologischen Mechanismen ist die Kehrseite seiner Fetischisierung des methodischen Denkens. Denn in dem gleichen Maße, wie das Reflexionsverbot als Garant intellektueller Autonomie angesehen wird, wird die entsozialisierte Individualität als die Voraussetzung ungestörter "Persönlichkeitsentfaltung" begriffen: Diese "leere Abstraktion der Einzelheit" ist jedoch die unvermeidliche Konsequenz der leeren Abstraktion "der ihr entgegengesetzten Allgemeinheit" (Hegel). Konkret bedeutet das: Trotz der modephilosophischen Geistesakrobatik bleibt es ein Trugschluß anzunehmen, daß die antizipierten Freiräume jenseits der sozialen Strukturen existierten und sich Selbstverwirklichung ohne "Anstrengung des Begriffs" und die Infragestellung der herrschenden Sozialisationsprinzipien erreichen ließe.

VI. Es kann dem "postmodernen" Denken nicht abgesprochen werden, mit seinen assoziativen Formeln "eine Reihe wesentlicher Konfliktlinien des geistigen Lebens kapitalistischer Gesellschaften" (E. Hahn) berührt zu haben. Weil es jedoch die Krisensymptome theoretisch nicht zu durchdringen vermag, gelangt es über den Status eines krisenförmigen Bewußtseins der Krise nicht hinaus. Was als "Positivposten" vom "postmodernen Denken" letztlich übrig bleibt, ist die Feststellung einer fundamentalen Orientierungslosigkeit und die Artikulation eines sozio-kulturellen Zustandes der "Zersplitterung", ohne jedoch zu ihren Ursachen vorzudringen. Aber ein solches erklärendes Gegenwartsverständnis wird auch gar nicht anstrebt, sondern eher als Zumutung betrachtet: Der prozessuale Zusammenhang und mit ihm die Gründe von Kontingenz und Fragmentarisierung sollen unbegriffen bleiben!

Der Diskurs wendet sich jedoch nicht nur von der Welt ab, weil sie ihm bedrohlich erscheint, sondern auch, weil eine Auseinandersetzung mit ihr, die Infragestellung ihrer sozio-ökonomischen Organisationsgrundlagen und ihrer konkreten Herrschaftsprinzipien provozieren würde. Die Alternative zur Haltung kontemplativer "Distanzierung" wäre Dissonanz, letztlich die Orientierung auf gesellschaftsverändernde Praxis. Das panischen Zurückweichen vor dieser Konsequenz können wir bei allen relevanten Problemkomplexen beobachten: Erkenntnisintentionen werden nicht deshalb diskreditiert, weil in ihnen eine irreversible Tendenz zum "Totalitarismus" eingeschrieben ist; dieser Vorwurf ist faktisch nicht zu halten und nur vorgeschoben. Tatsächlich geht es darum, daß die "organischen Intellektuellen" (Gramsci) des entwickelten Kapitalismus, sich der Wahrheit über ihn (und damit über die Grundlagen ihrer eigenen Existenz) nicht aussetzen wollen. Weil die Einforderung von Vernunft den herrschenden Irrationalismus in Frage stellen würde, wird die Hinfälligkeit jeder Vernunftorientierung behauptet. Deshalb fehlt jeder ernsthafte Versuch, sich mit der Lebenswirklichkeit jenseits von Oberflächenerscheinungen auseinander zu setzen.

Durch diese Verweigerungshaltung werden spezifische Erkenntnismöglichkeiten ignoriert, die gerade von der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Krisenstadium hervorgebracht werden und auf die beispielsweise Walter Benjamin sein Erkenntnisinteresse konzentriert hat. Er ist berechtigterweise skeptisch, ob die Zustandsformen der kapitalistischen Welt im XX. Jahrhundert noch mit einer tradierten Systematik beschrieben werden können, hält aber an der Vorstellung einer ontologischen Einheit der Welt fest und versucht, diese "Einheit der Gesellschaft und des menschlichen Lebens ... im Diskontinuierlichen zu ergreifen. Das Fragment wird ... zum Indiz des Ganzen, zugleich zum Bild der Offenheit nach allen Seiten." (H. H. Holz) Doch im Gegensatz zu den Intentionen Benjamins ist das "Fragment" im Diskurs-Denken zur Metapher einer isolierten Existenzweise geworden. Auch wenn es sich auf die Diskontinuitäts-Metaphorik Benjamins bezieht, ignoriert es seine dialektischen Denkvoraussetzungen und die daraus resultierenden Vorstellungen einer prinzipiellen "Einheit" und Vermitteltheit des gesellschaftlichen Geschehens.

Sie reproduziert stattdessen in sprachlich modifizierten Gewand das bürgerliche Vorurteil eines grundsätzlichen Gegensatzes des Menschen von seinem Mitmenschen. Und sie intendiert im gleichen Maße die Vorstellung, daß das eigene Interesse nur gegen das Interesse des gesellschaftlichen Gegenübers durchgesetzt werden kann. Nur einem Denken, das seine Abhängigkeit von solchen Weltanschauungsmuster nicht abzustreifen vermag, scheint die Fetischisierung der "Zersplitterung" durch die Fragment-Metaphorik plausibel zu sein. Einem reflektierten Denken, drängt mit dem Wissen um den gesellschaftlichen Charakters auch des Individuellen, bei der Beschäftigung mit einem "Unabgeschlossenen" und Unvollständigen das Bedauern über einen Verlust auf.

Nicht nur durch das Beispiel Benjamin wird deutlich, daß auch dem dialektischen Denken die Bezugnahme auf das Fragment nicht fremd ist; jedoch gibt es sich nicht mit seiner Fetischisierung zufrieden, sondern fragt nach den Gründen, die zur Fragmentarisierung geführt haben. "Dialektik, die das Fragmentarische der Welt so voraussetzt wie involviert" (Bloch), transportiert das Wissen, daß vom Fragment überhaupt nicht gesprochen werden kann, ohne eine Vorstellung (oder zumindest eine Ahnung) vom Ganzen zu besitzen. Das Fragment ist zwar ein Existierendes, dem reflektierenden Denken drängt sich jedoch zugleich mit seiner Wahrnehmung ein "Defizit" auf: Auf dem Bruchstück einer attischen Vase mag sich eine Malerei von großer Ausdruckskraft befinden, so daß es ein Kunstwerk mit eigener Geltung darstellt. Der Betrachter kann sich jedoch trotz seiner Bewunderung, dem Eindrück der Unvollkommenheit nicht entziehen. Er wird sich fragen: Wie mag das fehlende Pferd vor dem Streitwagen ausgesehen haben, wie der Gegner des kämpfenden Kriegers? Die fragmentarische Darstellung verweist zwangsläufig, trotz seines ästhetischen Eigenwerts, auf etwas Umfassenderes, das nicht in allen Fällen eine größere Vollkommenheit oder eine höhere Stufe der ästhetischen "Wahrheit" repräsentieren muß, dessen gedankliche Rekonstruktion jedoch zum Verständnis des Fragments nur von Vorteil sein kann. Vor allen Dingen provoziert sie ein Bedauern über einen "Verlust": Das unvollendete Kunstwerk oder sein fragmentarisierter Rest mögen ästhetischen Genuß bereiten, können aber den Eindruck einer prinzipiell vermeidbaren "Unabgeschlossenheit" jedoch nicht beseitigen.

Dramatischer drängen sich Defizit-Erfahrungen natürlich bei der Beschäftigung mit konkret-gesellschaftlichen "Fragmentarisierungen" auf. Wenn sich das Diskurs-Wissen überhaupt einmal auf das verminte Feld sozialer Empirie begibt, schlägt seine regressiv-weltanschaulich motivierte Formel von einer "fröhlichen Relativität der Dinge" (Baudrillard) in blanken Zynismus um: Noch der meist tragisch geprägte Kampf "fragmentarisierter" Menschen um ihre soziale Existenzsicherung und um ihr psychisches Gleichgewicht im Risikokapitalismus, wird als Voraussetzungen einer positiv begriffenen Lebensgestaltung in der "Postmoderne" interpretiert. Noch in den sozialen Entwurzelungen, perspektivischen Diffusionen und der normativen Ratlosigkeit von Krisenopfern will der "postmoderne" Denker die Bedingungen einer "Wiederaneignung" sehen. Durch dieses positive Verständnis verwertungsorientierter Umgestaltungen wird das legitimatorische Selbstbild eines "neo-liberal" enthemmten Kapitalismus ratifiziert, das die sozialen "Entstrukturierungsprozesse" mit der Erweiterung individueller Handlungskompetenz gleichgesetzt: Die "Fragmentarisierung" der Subjekte durch die forcierten Krisenprozesse, ihre sozio-kulturelle Orientierungslosigkeit, sowie die Zerstörung ihrer sozialen Bindungen, werden mit abgeklärter Gleichgültigkeit als notwendige Voraussetzungen individualistischer "Befreiung" interpretiert. Selbst die irrationalistische und gewaltgeprägte Formierung jugendlicher Subkulturen wird (in diesem konkreten Fall von Wolfgang Welsch) als Ausdruck eines individualistischen "Befreiungsaktes" angesehen. "Unterprivilegierte Ausdrucksformen" von autoritär strukturierten Jugendlichen, die sich intellektuell verantwortungsvoll nur als Ergebnis sozialer Degradierung, existentieller Verunsicherung und psychischen Elends begreifen lassen, werden auf der Grundlage "postmoderner" Prämissen als "gleichermaßen legitim und verteidigungswert" (Welsch) klassifiziert. Auch in solchen individuellen Not- und Krisensituationen soll – wie uns Welsch versichert - eine "experimentelle Selbstfindung" möglich sein.

Vom Autor ist 2000 im Kölner PapyRossa Verlag der Band "Das Ende der Gesellschaftskritik? Die Postmoderne als Realität und Ideologie" (ISBN 3-89438-198-1) erschienen. 2002 hat er in der "Edition Marxistische Blätter" den Band "Gescheiterte Moderne? Zur Ideologiekritik des Postmodernismus"(ISBN 3-910080-36-7) mit Beiträgen u.a. von András Gedö, Erich Hahn, Hans Heinz Holz, Hartmut Krauss, Thomas Metscher, Robert Steigerwald, Gottfried Stiehler herausgegeben.


 

 
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- Dieser Text ist zu Gast in "Annettes Philosophenstübchen" 2003 - http://www.thur.de/philo/fragment.htm -