„Zum Kältestrom-Wärmestrom in
Naturbildern“ Vortrag auf der Internationalen
Fachkonferenz
Moderne WissenschaftskritikDie Kritik der
neuzeitlichen Wissenschaft hat sich bereits großes Gehör verschafft.
Ökologische, feministische, wertkritische und postmoderne Kritiken sind
bekannt. Auch Ernst Bloch hatte speziell gegenüber der modernen
Naturwissenschaft große Vorbehalte – aber er schüttete dabei nicht das Kind mit
dem Bade aus. Für ihn gehörten zwei Erkenntnisweisen eng zusammen: Es gibt
zwei Arten, sich stoffgemäß zu verhalten. Die eine ist kühl und entzaubernd,
die andere voller Vertrauen. Die eine zerreisst den Schein der Dinge, die
andere ergibt sich dem wirklichen Gang der Dinge und ist gewiss, dass er gut zu
werden verspricht. Beide Haltungen sind gleich wichtig, sind in jedem echten
Marxisten, wechselwirkend, vereinigt. (Bloch LM: 170) In der Praxis
gelingt das Miteinander dieser Haltungen oft weniger gut. Über dem Arbeitstisch einer Diplomandin im Fachbereich Relativitätstheorie
der Uni Jena hing ein Plakat mit dem Foto eines Kometen mit dem darunter
geschriebenen Zitat aus dem Brief einer Amateurastronomin: „Kometen sind keine
mathematischen Objekte – sie sind auch schön!!!“. Aus dem ersten Entwurf der
Diplomarbeit wurden alle Textabschnitte mit der Einordnung des speziellen
Themas in einen umfassenden kosmologischen Kontext gestrichen mit der Begründung,
dass das nicht zur Wissenschaft gehöre – da hätten nur die konkreten Berechnungen
Platz. Die Diplomandin ließ sich belehren und verließ nach dem Diplom die forschende
Physik. Erst später fand ich eine recht passende Beschreibung dieser Art
Naturwissenschaft. Bloch nannte sie ein „Zahlenspiel, unter dem man sich die
Welt zurechtlegt, nicht versteht“. Bei diesem Zahlenspiel wird die Exaktheit
dadurch erkauft, dass man die Momente der Welt ausschaltet, die außerhalb des
abstrakten Bereiches liegen (ebd.: 23).
Ernst Bloch hatte solche sich ergänzenden Betrachtungsweisen schon
in einem anderen Zusammenhang mit den Worten „Wärmestrom“ und „Kältestrom“
bezeichnet (Bloch EM: 141). Diese beiden Strömungen sind in der Materie selbst
angelegt, weil Materie einerseits „nach Möglichkeit“ bestimmt ist und
andererseits immer „in Möglichkeit“ – sich ins Offene hinaus weiter entfaltend
- ist (Bloch MP: 143; Bloch PH: 238; Bloch EM: 229). Aus diesem Grund begegnen
wir dem Wärme- und dem Kältestrom auch in den Naturbildern wieder (Bloch MP:
316). Ernst Blochs Ansprüche an die ErkenntnisErnst Blochs
Ansprüche an die Erkenntnis ergeben sich aus seinem Weltbild. Wenn die
Welt selbst ein Experiment ihrer selbst ist, so kann Erkenntnis nichts Starres
abbilden. Dieser Ontologie des „Noch-Nicht-Seins“ entspricht auch eine
Erkenntnisweise, die in ihren Denkformen darauf Wert legt, das Subjekt in Bewegung
zu lassen. Dies zeigt sich beispielsweise in der logischen Form „S ist noch
nicht P“. Ich kann hier keine vollständige
Rekonstruktion der Blochschen Begriffswelt angeben, nur jene Punkte beleuchten,
die für die Erkenntnis wesentlich sind. Entwicklung ist demnach keine Auswicklung
von schon Vorhandenem, sondern setzt ständig Neues. Sie setzt
voraus, dass es an jedem Punkt noch nicht verwirklichte objektiv-reale
Möglichkeiten, Keimendes, Verstecktes, bzw. Erwartbares gibt – die Latenzen.
Die „durchbrechende Bewegung“ bzw. die
„Energetik der Materie in Aktion“ stellt die Tendenz dar. Obwohl derzeit vorwiegend die Menschen an der Front
des derzeitigen Geschehens stehen, ist die Natur „kein Vorbei“. Damit
unterscheidet sich Bloch wohltuend von Ökologen, die eine Unterordnung der
Menschen unter eine statische oder in Kreisläufen sich verewigende Natur
fordern. Als „Schoß aller Gestaltungen“ besitzt auch die Materie etwas
Subjektives, Handlungsmächtiges. Bloch nennt das Schöpferische in der Natur
auch „Subjektkern“ oder „hypothetisches Natursubjekt“, damit auch der Begriff
der Dialektik (als Subjekt-Objekt-Dialektik) anwendbar wird. Gibt es
auch – entsprechend dem arbeitenden Subjekt als dem Erzeuger der Geschichte –
ein Subjekt in der Natur, eines, das der Motor von Naturdialektik sein könnte?
Gewiss, es ist nicht zur Natur hinzugedacht, es ist zwar nicht so erscheinend
wie das Subjekt in der Geschichte, aber es ist dieses, das sich eben in den
dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen der Natur sucht und darin kundgibt.
(Bloch LM: 414) Dies ist weniger eine ontologische Aussage über eine Dialektik in
der Natur – sondern unsere Aktivität als Menschen setzt voraus, das aus der
Natur uns etwas entgegen wirkt. Es geht Bloch um eine „Vermittlung mit dem
Produktionsherd des Weltgeschehens insgesamt“. Als Moment menschlicher Praxis muss Erkenntnis diesen
Voraussetzungen entsprechen. Das kann sie nicht, wenn sie lediglich
Überlistungswissen ist, wenn sie die Welt als statische Gegebenheit ansieht.
Erkenntnis muss der Entwicklung der Welt folgen und selbst Moment dieser Entwicklung
sein, Bloch nennt es „erkennendes Fortbilden“ in einer Mensch-Natur-Allianz. Er
bemerkt: Es kann
derart nichts erkannt werden, ohne daß dieses sich bewegt. Und es wird nur
erkannt, um zu verändern, folglich ist dieses Eingreifende von vornherein im
Blick. (Bloch TLU: 255) Gemessen an dieser Bestimmung von Erkenntnis ergeben sich in den
derzeit ausgeübten Praxen der Wissenschaft grundlegende Mängel. Entfärbte WeltbilderDas, worüber wir etwas wissenschaftlich wissen, ist nicht mehr
das, was uns als Menschen bewegt. Wir berechnen die Kometenbahnen in größter Exaktheit,
aber wir sehen nicht mehr die Schönheit der Kometen. Bloch charakterisiert die gegenwärtige Wissenschaft an vielen
Stellen vorwiegend negativ. Die Menschen als
Erkenntnissubjekt sind keine fühlenden, sinnlichen Individuen mehr, sondern sie
dienen höchstens zur „Registratur abstrakter Gesetzmäßigkeiten“ (ebd.: 23). Wir
beschneiden dabei auch die Objekte – wir konzentrieren uns auf das gesetzmäßig
Wiederholbare und dabei wird Neues, Sprunghaftes, Unberechenbares, historisch
Konkretes, qualitativ und wertmäßig Akzentuiertes eher als störend, als
„Impertinenz der Gegebenheit“ (ebd: 24) betrachtet. Es gehen also weder die Erkenntnissubjekte
noch die Erkenntnisobjekte in der Vollständigkeit ihrer Qualitäten und
Verhaltensweisen in die wissenschaftliche Erkenntnis ein. Weder die Vielfalt
der sinnlichen Wahrnehmungen geht vollständig in das systematisierte Wissen
ein, noch die umfassende Dialektik aller miteinander verbundenen,
widersprüchlichen Momente. Der Zweck des Wissens ist wesentlich an instrumentelle
Nutzbarkeit gebunden. Die imperialistische VereinnahmungWie auch andere Autoren herausarbeiteten, hängt dieser Zustand
durchaus mit der herrschenden gesellschaftlichen Praxis zusammen. Ernst Bloch
betrachtete vor allem die „mathematisierte Physik als einen Triumph
bürgerlicher Wissenschaft“ (ebd.: 24). Die Zuschreibung des Bürgerlichen ergab
sich für Bloch daraus, dass das „wissenschaftliche Denken [...] fast genau dem
bürgerlichen Handeln und der Welt, in der sich dieser bewegt“ (ebd.: 21),
entspricht.
Des Pudels kahler KernErnst Bloch blieb jedoch nicht bei dieser ideologiekritischen
Betrachtung stehen, für ihn war die äußerliche „Entlarvung“ nicht das letzte
Wort. Ernst Blochs Ontologie vereinigt verschiedene „Grade der Wirklichkeit“ –
auch die (bürgerliche) Wissenschaft ist nicht nur etwas Ausgedachtes oder von
der Gesellschaftsform Festgelegtes, sondern berührt eine bestimmte Sphäre des
Wirklichen. Auch die kühle und entzaubernde Art ist eine Art, „sich stoffgemäß
zu verhalten“ (Bloch LM: 170). Ernst Bloch war einer der ganz wenigen,
die auch in der Klassischen Mechanik nicht nur einen mechanistischen Fehlgriff
im bürgerlichen Interesse sah. Sondern diese Theorie erfasst einen bestimmten
Teil der Natur mit einer eigenen Wirklichkeit, nämlich jener des „Gewordenseins
und seiner vorläufigen Gebanntheit“. Die Analyse jener Sphäre der Wirklichkeit
begründet den Kältestrom des Naturwissens. Die auf diese Weise „nur
physikalisch separierte Materie“ ist eine „berechnete, eine rein außermenschliche,
eine vom unteren und oberen Saum der Wirklichkeit, eine am Saum gehaltene“
(Bloch MP: 358). Des Pudels
Kern ist hier allemal kahl: er ist Atomschwingung, kein Licht; Kohlenstoffverbindung,
kein Leben; Gehirnprozess, keine Seele; Ein solches Naturbild darf dann auch nicht
behaupten, bereits die „ganze Natur“ oder die ganze Welt darzustellen. Es ist
wichtig, herauszuarbeiten, wie die Naturwissenschaft ihre Gegenstände aus der
umfassenden Vielfalt der Welt herauspräpariert, um den grundlegenden Unterschied
von umfassendem Weltbild und einzelwissenschaftlicher Wirklichkeitsauffassung
nicht zu verwischen. EntdialektisierungDie neuzeitliche Naturwissenschaft bildet
nicht die in sich widersprüchliche Dialektik der Welt ab – sie könnte keine
einzige Gleichung aufschreiben, wenn sie nicht die in sich widersprüchlichen
Momente auf unterschiedliche Zustandsgrößen verteilen würde. Gegenstand der neuzeitlichen
Einzelwissenschaft, z.B. der Physik, ist nicht die Entwicklung in ihrer Widersprüchlichkeit,
sondern die Bewegung veränderbarer Zustandsgrößen, die selbst der
Widersprüchlichkeit entbehren. Bloch versteht sehr gut, dass auf dieser
Grundlage (auch wenn sie ihm nicht in allen Einzelheiten bewusst war – ich
folge hier weitgehend den Untersuchungen von Renate Wahsner - ) auch die
Quantentheorie nicht plötzlich wieder dialektisch werden kann. Bloch sah
deutlich den Unterschied zwischen den Widersprüchen in der Sache und den Widersprüchen
im Erkenntnisprozess selbst, den Problemantinomien (Narski). „Widersprüche
zwischen Begriffen, zwischen bloßen physikalischen Hilfsbegriffen sind noch
nicht, ohne weiteres, Widersprüche in der Sache“ Zum Abschneiden des qualitativen Sektors in der Wissenschaft habe
ich schriftlich eine längere Ausarbeitung vorbereitet, die den Rahmen hier aber
sprengen würde. Im Ergebnis komme ich zu einer Differenzierung des Quantifizierungsvorwurfes.
Die Naturwissenschaft reduziert nicht alle Qualitäten in rein quantifizierte
Größen. Sondern gerade die Mannigfaltigkeit an Zustandsgrößen bewahrt eine
große Anzahl qualitativ unterschiedlicher Verhaltensweisen physikalischer
Gegenstande. Auch Physik kann nicht auf die Tendenz zur Vereinheitlichung in
einer Theory of Everything reduziert werde – auch wenn diese im populären
Bereich bekannter ist als der langweilige Labor- und Industriealltag der gewöhnlichen
Physik. Tatsächlich lebt die Physik von einer großen Vielfalt qualitativ
verschiedener Verhaltensweisen, die sich in Zustandsgrößen ausdrücken und deren
Wechselbeziehungen. Die Entscheidung, welche Größen und welche mathematisierten
Modelle jeweils verwendet werden, trifft der Physiker in der wirklichen Praxis
durchaus notwendigerweise in Abhängigkeit von seinem konkreten inhaltlichen
Problem, d.h. bei Strafe des Misserfolgs muss er die wirklichen Gegenstandsqualitäten
berücksichtigen. Als teilzeitpraktizierende Physikerin kann ich nicht einfach
am Abend philosophierend behaupten, die Physik würde es nur noch mit Zahlen zu
tun haben. Trotzdem bleibt bislang festzuhalten, dass die Einzelwissenschaft
durchaus auch nicht die vollständige widersprüchliche Fülle der Welt darstellt.
Die Betreuer der zu Anfang genannten Diplomarbeit waren also sogar im Recht,
insoweit sie darauf achteten, dass Physik nicht unmittelbar
philosophisch-weltanschauliche Fragen zum Gegenstand hat. Vom Gesetzesfahrplan zur TendenzKommen
wir nun zum nächsten Aspekt der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die Bloch
thematisiert. Es geht um den Gesetzesbegriff. Ernst Blochs Gesetzeskritik bezog
sich einerseits auf die Herkunft der Vorstellung von Gesetzen aus gesellschaftlichen
Herrschaftsverhältnissen, wo Gesetze als „festgehaltene, erzwungene Satzungen“
gelte und andererseits auf die durch die Orientierung an Gesetzen in der Naturwissenschaft
gegebene Fixierung am Wiederholbaren, das das von Bloch betonte Neue außen vor
lässt.
Im „Prinzip Hoffnung“ verwendet er die
Kategorie des Gesetzes aber auch positiv. Wenn wir etwas verändern wollen,
müssen wir auch davon ausgehen können, dass unser Handeln gesetzmäßige
Wirkungen erzielt und nicht in der Beliebigkeit verpufft. Es geht dann um die
„Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze“, wobei die bewusste
Veränderung der jeweiligen Wirkungsbedingungen von Gesetzen eine große Rolle
spielt. „Freiheit... ist kein Amoklauf, sondern tätiger Einklang mit...
gesetzmäßigen Bedingungen.“ Unabdingbar ist es jedoch, mit dem Gesetzesbegriff
keine „automatisch definierte Zukunft“ mehr zu verbinden
Mit der Untersuchung der Rolle
verschiedener Bedingungen durch Günter Kröber und dem statistischen Gesetzesbegriff
von Herbert Hörz wurde der Gesetzesbegriff in der DDR auch in diese Richtung
weiter entwickelt. In seinem Spätwerk „Experimentum Mundi“
geht Bloch von der positiven Verwendung der Kategorie des Gesetzes ab und
möchte sie durch jene der Tendenz ersetzen.
Denn die Tendenz ist im Gegensatz zum
Gesetz noch unentschieden und hält den Platz offen für das Novum. Dieser Tendenzbegriff ist dann aber
weiter zu begründen: In welcher Weise heben sich unterscheidbare Tendenzen für
bestimmte Gegenstände ab vom Hintergrund der unendlich in sich widersprüchlich
vernetzten Zusammenhänge? Und in welcher Weise stellen die bisher erkannten
Gesetze das jeweilige statische Moment von Tendenzen in Entwicklungszusammenhängen
dar? Die folgende Abbildung stellt noch einmal einige Punkte zusammen,
die für Blochs Weltanschauung wesentlich sind und was sich daraus für Kritiken
an der gegenwärtigen Naturwissenschaft ergeben. Dies genannten Mängel speisen sich nach
Bloch aus zwei Wurzeln. Die eine ist die Anpassung der Wissensform an die Form
der herrschenden Ökonomie, an die „imperialistische Vereinnahmung“ auch des
Mensch-Naturverhältnisses. Andererseits gesteht Bloch der neuzeitlichen
Naturwissenschaft aber auch zu, tatsächlich die Darstellung eines bestimmten
Natursektors zu sein. „Alleszertrümmerung“ oder Aufhebung?Das beeinflusst dann auch die Beantwortung
der Frage, ob noch etwas von der bisherigen Wissensform übernehmbar ist,
eventuell im Sinne einer dialektischen Aufhebung, oder ob es notwendig ist,
„alles zu zertrümmern“, wie Robert Kurz in einer aktuellen Rationalitätskritik
fordert. Besonders aus feministischer und ökologischer
Wissenschaftskritik speist sich eine recht radikale Fragestellung: Ist es
überhaupt möglich, Wissenschaften, die offensichtlich so tief mit westlichen,
bürgerlichen und männlich dominierten Zielvorstellungen verbunden sind, für
emanzipatorische Zwecke einzusetzen? (Harding 1990: 7) Bei Alfred Sohn-Rethel wurde betont, dass auch die
Erkenntnissubjekte „in diese Welt von der Wurzel her eingemauert“ sind. Es gibt
keinen Gegenstand, der nicht selbst kontaminiert wäre von der Gesellschaftsform
und es gibt kein Subjekt, dass die gesellschaftliche Determination, auch der
Subjekte von einem Beobachterstandpunkt aus konstatieren könnte, ohne selbst
betroffen zu sein. Noch konsequenter ist Robert Kurz, der deutlich macht, dass
die Ergebnisse der Lebenspraxis der Menschen sich ihnen als gesellschaftliches
Fetischverhältnisse abstrakt entgegen stellen. Die Gesellschaftlichkeit der Menschen,
ihre „zweite Natur“, ist ihnen genau so äußerlich wie Gesetze die „erste
Natur“. Ein aktuelles Zitat belegt diese Tatsache. Ifo-Chef Hans-Werner Sinn
meinte zur Rede des SPD-Vorsitzenden, in der dieser die „Macht des Kapitals“
kritisiert hatte: „Herrn
Münteferings moralische Entrüstung über ökonomische Gesetze könnte sich genauso
gut gegen das Gesetz der Schwerkraft richten.“ (Sinn 2005) Es ist aber interessant, dass auch der
„Alleszertrümmerer“ Kurz nicht völlig beim Nullpunkt neu anfangen möchte. Ihm
ist es wichtig, dass auch bei der Kritik nicht wieder abstrakte Maßstäbe
angelegt werden, sondern unser Naturwissen inhaltlich überprüft wird. Als
aufbewahrenswert und Ausgangspunkt neuer Entwicklungen empfiehlt sich alles,
was sich bisher schon der gesellschaftlichen Formbestimmung weitestgehend
sperrend entgegen gestellt hat. Er nennt auch eher gesellschaftsform-, bzw.
ideologieneutrale Kulturtechniken wie das Bierbrauen, das Weinkeltern sowie
Lesen und Schreiben. So wird die
Aneignung von Artefakten der Geschichte erstens deren barbarische Abkunft nicht
verdrängen und verleugnen, sondern sie im Benjaminschen Sinne als „Eingedenken“
bewahren. Zweitens geht diese Aneignung mit einem Prozess des Verwerfens
einher, eben weil es keine „unschuldigen“ Inhalte gibt und ein bestimmter Teil
davon derart formvergiftet ist, dass er ebenso wie die (und zusammen mit der)
Form völlig negiert werden muss. Aber das ist eben drittens erst
herauszufinden; dafür kann es kein abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung
gegeben, das ja selber wieder nur eine Fetischform darstellen würde. Auch Ernst Bloch hat Vorschläge dazu gemacht, wie
Naturwissenschaft sich zu Allianzwissen entwickeln kann. Ein Punkt betrifft die Festlegung der
Zustandsgrößen. Hier schlägt er vor, über den verstärkten Einsatz von
intensiven Größen im Unterschied zu extensiven Größen nachzudenken. Wo er sich
noch auf Gesetze bezieht, sollte gerade das Überschreiten ihrer
Wirkungsbedingungen thematisiert werden und ihr tendenzieller Charakter herausgearbeitet
werden. Und trotz des spezifischen Umgangs mit dialektischen Widersprüchen kann
Naturwissenschaft nicht völlig auf das Erkunden der Widersprüche in der Sache
verzichten. In seiner Schlüsselfunktion legt solches Wissen als „reale
Abbildung“ die Triebkräfte des Geschehnen bloß (ebd.: 137), in seiner
Hebelfunktion erweist es sich immer auch als Fortbildung. Wichtig ist es
ebenfalls, die Anmaßung von Wissenschaft durch die Berücksichtigung ihrer
spezifischen epistemologischen Voraussetzungen zu begrenzen. Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden: Es ist wichtig, Wissenschaft als Prozess im Rahmen spezifisch
menschlicher Tätigkeit, als Arbeit oder Praxis zu fassen. Als Moment der umfassenden
menschlichen Lebenspraxis ergeben sich auch die Bestimmungen der Wissenschaft –
jeweils auch in ihrer historischen Spezifik. Als allgemeine Bestimmung durch
die Menschheitsgeschichte hindurch sollte gelten, dass Praxis Weltveränderung
bedeutet und in diesem Rahmen die Wissenschaft die Veränderbarkeit der Welt
erkundet. Mit der Bestimmung von Wissenschaft als Erkundung von Veränderbarkeit
ist die Suche nach Möglichkeiten und Neuem, die Bloch einfordert, tendenziell
enthalten. Wenn wir erforschen, was in welcher Weise veränderbar ist, fragen
wir nach den Möglichkeiten, die uns die Welt als Latenz entgegenbringt und
denen, die wir entwickelt haben, um verändernd einzugreifen. Da frühere Veränderungen
in das Sein eingehen, drängt die Suche nach dem Veränderbaren auch immer wieder
auf Neues. Etwas über die Veränderbarkeit zu erfahren
erfordert auf der einen Seite, etwas über die Potenzen und die Widerständigkeit
der Welt gegenüber den Einwirkungen der Menschen zu wissen – auf der anderen
Seite bezieht sich die Suche nach Veränderungen immer auf Veränderungen durch
uns und für uns. Einerseits bildet wahres Denken ab, „was ausser ihm geworden
ist und wird“, andererseits geht es um die Abbildung eines an und durch den
lebenden Menschen Geschehenden (ebd.: 238). Auf diese Weise vereinigen sich der Kältestrom im Naturbild, der
das Gegebene, das „nach-Möglichkeit-Seiende“ anerkennt, und der Wärmestrom, der
das Werdende, das Neue, das „in-Möglichkeit-Seiende“ betont – der Möglichkeit
nach auch in der Wissenschaft. Diese Möglichkeit ist nicht in allen Phasen voll verwirklicht, in
langen Etappen sogar verschüttet. Das Freilegen dieser Möglichkeit im Wissen
einer befreiten Gesellschaft erfordert eine Rekonstruktion wissenschaftlicher
Inhalte – aber auch praktische Tätigkeit, um die dafür notwendige
Gesellschaftsform überhaupt erst zu schaffen. Bloch verweist genau so wie
Sohn-Rethel oder Kurz darauf, dass es nicht möglich sein wird, ein neues
Naturverhältnis zu erreichen, wenn nicht die Verhältnisse zwischen den Menschen
endlich ihrer „Vorgeschichte“ entrissen werden. Auf diese Weise verlangt gerade
auch der Fortschritt des Naturwissens und das Erreichen der Naturheimat, dass
wir uns um unsere gesellschaftspolitischen Belange kümmern. In diesem Sinne ist es nicht unzeitgemäß, mit Bloch zu fordern: Das jetzt
fällige Wissen ist eines ums beförderte Werden, die Fahne des Verstandes ist
rot.“(Bloch AOP 339) Diese Arbeit erschien in: Zimmermann, Reiner E. (Hrsg.): Naturallianz. Von der Physik zur Politik in der Philosophie Ernst Blochs. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. 2006. S. 55-81. |
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