Philosophisches Leben online - ein Tagebuch


1.4.97

Auweia - es hat sich doch mehr geändert, als ich gehofft und gefürchtet habe. Aus 8 Mailinglists bekomme ich täglich ca. 30 mails, davon fast 1/3 in englisch, wo schon das Lesen etwas länger dauert. Mengenmäßig ufert vor allem die Mailinglist "Webkultur" aus. Diese Meldungen lesen sich aber auch recht flott und vermitteln doch recht oft wichtige Diskussionen (z.B. anhand einer aktuellen Abmahnung durch Yahoo gegenüber einem Anbieter die Frage, welche "fremden" Inhalte in welchen Frames wie angezeigt werden dürfen) und Designtips.

In der Philosophielist ist seit Wochen Flaute, dafür decken mich zwei kleinere englischsprachige Gruppen um Steve (Gaia) und Andy mächtig mit Cc-Diskussionen ein. Vorgestern wagte ich mich mit einem kleinen Text rein und habe heute auch gleich 3 oder 4 sich darauf beziehende Meinungen bekommen. Insofern ist die inhaltliche Resonanz auf meine wenigen englischsprachigen Äußerungen (bisher nur ein Text und verschiedene Mails) wesentlich größer und auch qualifizierter als auf den ganzen deutschsprachigen Packen.

Ich stehe nun vor dem Problem, daß ich mit meinem Buch nicht recht weiterkomme. Es scheint mir manchmal zu gelingen, die Internet-Aktivitäten mit dem Buch-Schreiben zu koordinieren. So ist z.B. das dritte Kapitel gleichzeitig teilweise als Internettext (den ich auch grad auf englisch übersetze) geeignet und wird hier auch gebraucht. Dasselbe klappt jetzt vielleicht auch mit Gaia (als Hintergrund für die Mensch-Natur-Überlegungen des Buches) und auch bei der Spiritualitätsdebatte gibt es ja Synergien mit dem aktuellen Gesprächsthema im Wohnverein.

Übrigens funktioniert mein FTP-Zugang wieder mal nicht. Ich habe die "Eingangstür" etwas entfrachtet, das muß noch rübergeschoben werden...

6.4.97

Es wird zu viel. Jeden zweiten Abend eine Stunde mails lesen, eine halbe Stunde einiges gleich beantworten. Zweimal in der Woche je 2 Stunden in der Fachhochschulbibliothek "surfen", dabei Dateien abspeichern, deren Lesen nochmal 3 bis 4 Stunden in Anspruch nimmt.

In einigen der Mailinglists ist eigentlich glücklicherweise immer Ruhe. Dafür überschlagen sich die Meldungen in mindenstens einer gerade - das braucht notfalls aber meist nur überflogen zu werden (obwohl es schade ist).

Inhaltlich muß ich gestehen, daß die viele Surferei mir zwar einen weiteren Horizont gegeben hat - es ist aber zu meinen geplanten Buchinhalten noch nichts substanziell Neues hinzugekommen.

Meine deutschsprachige elektronische Korrespondenz ist oft aufmunternd (weil die, denen meine Sachen nicht gefallen, sich die Arbeit des Schreibens gar nicht erst machen). Inhaltlich gibt aber die kurze englischsprachige Erfahrung bereits mehr her. Besonders die kleineren Cc-groups gehen inhaltlich recht tief (Themen Gaia, Spirituality und jetzt auch noch Dialectics (Hegel)). Das benötigt längere Bearbeitungszeiten bei mir.

Ich stelle also fest, daß meine Freizeitstunden völlig von den Internetaktivitäten gefressen werden. Etwas fixer wird das Englische demnächst gehen, je besser ich es beherrsche. Ansonsten organisiere ich mir schon einiges so effektiv wie möglich.

Die Bücherstapel, die z.T. schon ein Jahr warten, werden nicht niedriger. Einige wenige Bücher verdienten wochenlanges intensives Studium. Daran ist überhaupt nicht zu denken.

Ich stecke in der Zwickmühle: Einerseits könnte ich gut davon zehren (natürlich nur im übertragenen Sinne), mein bisheriges Wissen ins Englische zu übertragen und in die Diskussionen zu bringen - andererseits möchte ich selber aber auch weiterkommen, was eigenes konzentriertes Studium erfordert. Nur - was nützt das eigene Vorwärtskommen im Studierstübchen, wenn es nicht in die Diskussionen eingebracht wird???

16.4.97

Vor zwei Wochen begannen über zwei Cc-groups zwei unabhängige englischsprachige Diskussionsthemen. Meine Meinungsäßerungen riefen mehrere interessante Antworten hervor, so daß ich mich angeregt fühlte, weiterzuargumentieren. Obwohl ich viel Zeit in der Arbeitszeit dafür nutzen kann (mein Chef liest das hoffentlich nicht, und wenn - kann ich ihm begründen, warum das zu meinem Arbeitsthema gehört...), sind darüber viele Tage vergangen. Ich lese Hegel (auf deutsch und englisch) nach, hole ergänzende Texte aus dem Internet (die natürlich auf Englisch sind und deshalb etwas länger beim Lesen dauern...). Die Gruppendiskussionen sind nur teilweise noch an den Themen dran. Für richtiges Nachdenken ist das Netz also doch zu schnell. Dabei sind diese Cc-Groups noch das Günstigste.

Inhaltlich komme ich aber gut vorwärts. Ich lerne viel Neues bei der Beschäftigung mit den Themen und das ist es mir wert. Es hat sich gezeigt, daß die beiden erst voneinander unabhängigen Themen inhaltlich tief zusammenhängen: Möglichkeit, Spiritualität und Gaia. Haben beide was mit dem Ganzen, dem Gesetzmäßigen zu tun und das ist ja "mein" Thema. Die inhaltlichen Ergebnisse werde ich zusätzlich noch in eine sich vielleicht dadurch zusammenfindende Philosophen-Cc-Gruppe einbringen. Ach ja: und zu meinem dritten Buchkapitel paßt es inhaltlich auch.

Heute nun habe ich zwei neue Dateien erst mal auf den Ministeriumsserver geschoben, weils beim Thüringen-Netz-Verein technisch im Moment klemmt. Mal sehen, ob sich das bis heute abend geklärt hat (dann war heute meine halbe Tagesarbeit wieder sinnlos...).

16.4.97

aus einem Brief an H.H.:

Bei mir staut sich im Moment auch einiges. Eigentlich will ich ja in den wenigen Freizeistunden Buch schreiben. Inzwischen haben sich aber einige äußerst interessante eMail-Kontakte ergeben. Da finden sich jeweils 6 bis 7 Leute, die über mail diskutieren. ...

Das erfordert beides schon inhaltlich einigen Aufwand - aber zusätzlich erschwerend läuft das Ganze natürlich in Englisch... Da hab ich eigentlich täglich voll damit zu tun, obwohl ich sogar in der Arbeitszeit einiges abarbeiten kann...

An dieser Stelle ist für mich eine schöne Utopie bereits wahr geworden. Man nimmt das schon so selbstverständlich... Meine Träume, die sich so erfüllen, waren einst gar keine Utopien. Es war die einfache "Verlängerung" der Vorstellung des Vorhandenen: "Ich werde Wissenschaftlerin, mindestens promoviert und nehme dann am internationalen Gedankenaustausch teil". Dieser Traum hat sich nicht erfüllt - die normalen wissenschaftlichen Wege (Zeitschriften, Kolloquien...) sind mir verschlossen, weil ichs nicht geschafft hab, rechtzeitig auf die "Karriereschiene" zu springen. Dafür passiert etwas viel Besseres: Ohne mich den Karrierezwängen unterwerfen zu müssen, kann ich die neuen Kommunikationskanäle nutzen. Auf dieses Neue schauen zwar die Etablierten etwas naserümpfend herunter ("da kann ja jeder jeden Mist schreiben, das ist ja nicht durch unsere Gütekontrolle gegangen"), aber wenn man von deren Wohlwollen nicht abhängig ist, stört das doch nicht. Wir anderweitig miteinander Diskutierenden sind miteinander zufrieden und da wird nicht zuerst nach dem akademischen Status gefragt, sondern die Inhalte interessieren. Was die Wirksamkeit des eigenen Schaffens angeht - wenn man schon danach fragt - so ist die Bilanz für die Akademiker nicht unbedingt besser als für die "Dilettanten". (Auch die jetzigen Akademien waren gegenüber den klösterlichen Wahrheits-"Bewahrern" mal die Laien!) Was erinnert an manchen Professor später mal außer seinen Unterschriften auf den Scheinen seiner Studenten? Es sind im Moment eher manche australische Ingenieure oder kanadische Arbeiter, die ich im Internet als "weise Menschen" kennen- und schätzenlerne (die Professoren haben da wenn schon, dann auch meist nur eine farblose "Ich bin auch noch da"-Meldung). Und wenn es mal "weise Professoren" sind, denen ich im oder außerhalb des Netzes begegne, so bleibt auf jeden Fall das Menschliche stärker in Erinnerung und damit in der Tradition erhalten. Das Netz befördert deshalb für mich insgesamt keine Entfremdung, Erkaltung der Beziehungen, sondern eher das Auffinden sinn- und gedankenwärmenender Kontakte auf der ganzen Welt, die mir vorher verschlossen war.

Ich frage mich nur immer: Ist es ein Zufall, dass ich im englischsprachigen Bereich, obwohl ich Englisch nur sehr langsam erst wieder einigermassen lerne - auf wesentlich mehr inhaltliche Resonanz stosse als im deutschen? Oder ist die englischsprachige Welt nur eben soooo viel groesser, dass die Wahrscheinlichkeit, auf Resonanz zu stossen trotz der wenigen englischen Worte von mir im Cyberspace so viel groesser ist?

(die letzte Seite schicke ich als kleine Provokation an die register-und philweb-mailinglist. Mal sehen, was passiert...)

13.7.97

Ein Vierteljahr ist vergangen. Aus dem oben Erwähnten ist gar nichts geworden.
Parallel dazu hat sich durch Ken Kubota eine neue Mailinglist zu Dialektik entwickelt, in der ich ein wenig mitdiskutiere. Das Mailen nimmt ca. zwei Abende der Woche ein, die Hälfte der Mails erfordert und ermöglicht gründliches Nachdenken...

Ich arbeite einige sehr theoretische Sachen fürs Buch auf, da läuft das alles schön parallel.

Seit zwei Wochen hat T-Online Probleme. Auf mich warten ca. 70 mails, die sich nicht abholen lassen. Nun gut, habe ich Zeit für Anderes. Bald kommen 4 Wochen Urlaub, in denen auch nichts geht.

4.11.97

T-Online hat immer noch Probleme. Ich auch. Ich hoffe, das FTP von einem Uni-Gastrechner funktioniert morgen, damit ich einige Fehlerchen rausnehmen kann. Ansonsten habe ich das Problem, daß sich meine Internetaktivitäten im Hobbybereich stark reduzieren müssen.

Ab 15.11. bin ich wieder arbeitslos gemeldet, feste Stellen gibts nicht, nur solche Sachen, wo man jede Mark direkt selber erarbeitet und einspielt. Da habe ich 8 verschiedene Sachen auf der "Pfanne", muß aber für alle erst mal Vorleistungen erbringen, bis es sich einspielt, daß ich sehe, wo Geld fließt und was weiter ausgebaut wird.
Leider habe ich dadurch keine Reserven, neue Sachen wie Java oder CGI anzugehen (wenn es niemand bezahlt, und das macht ja keiner). Der Rest Freizeit, der bleibt, geht ins Buch- und Veröffentlichungsschreiben.

An dieser Stelle kann ich eine kleine Bilanz ziehen: Es ist tatsächlich enorm, was im Internet laufen könnte. Ich war eigentlich ausreichend ausgelastet mir Online-Korrespondenzen, die mir auch inhaltlich viel gebracht haben. Sobald man aber nicht mehr voll dafür powern kann, ist man draußen. Da funktioniert dieses Medium nicht anders, als der Rest der Welt.
Was die Veröffentlichungen betrifft: Ich habe so 6-10 Texte fertig, die kommen aber nicht ins Web, sondern nun doch in die "altmodischen" Zeitschriften. Da landen sie in Diskussionsnetzwerken - während in meinem virtuellen Philosophenstübchen kaum jemand alle ca. 150 Texte zur Kenntnis genommen hat. Ob da noch 6 mehr drinstehen, ist die Arbeit im Moment nicht wert. Tut mir echt leid, so steht die Sache aber im Moment.
Wenn ich vielleicht mal wieder finanziell stabilisiert bin und der Freiraum nicht durch Buch/Veröffentlichung/Vorträge besetzt ist, komme ich auf jeden Fall wieder stärker aufs Internet zurück. Auf jeden Fall schaue ich aller paar Tage in meinen eMail-kasten (falls T-Online mich läßt) und beantworte alle mails. Vielleicht ist das auch mal ein guter Test, inwieweit der Ruf in die Online-Wildnis dann überhaupt noch wahrgenommen wird, oder ob es untergeht.

Wie gesagt, ich nehme nicht Abschied von diesem Medium - versuche einfach mal eine neue Art der Integration ins normale Offline-Leben. Mal sehen, ob man Bürger beider Welten (online/offline) sein kann...

27.7.1998

Also, so lange, wie hier eine Pause ist, war ich nicht etwa online. Ich habe neue Dateien fertiggestellt, Problemchen mit dem Server gehabt - aber täglich einige Mails beantwortet. Noch schaffe ich es, alle zu beantworten. Mir geht es noch nicht wie Cliffod Stoll, der sagt:

Clifford Stoll: Ich lese meine E-Mail. Ich beantworte ungefähr jeden zwanzigsten Brief, mehr geht einfach nicht mehr. Ich habe jetzt auch zwei Kinder, zwei Babys. Die Zeit, die ich an der Tastatur sitze, kann ich nicht mit meinen Kindern verbringen. Aaargh! Auf dem Sterbebett werde ich einmal sagen: »Hätte ich nur mehr Zeit mit meinen Kindern und weniger mit dem World Wide Web verbracht«. Also verbringe ich jetzt mehr Zeit mit den Kids und weniger mit dem Internet. So einfach ist das.

(in: http://members.aol.com/wkoser/stoll.html)

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