Umfassende Bereiche:
Meta-Disput zur Dialektik
Anläßlich einer kleinen eMail-Diskussion
bekam ich zwei Texte (s.u.) zur Dialektik zugeschickt. Sie bieten Anlaß,
sich mit dem Begriff und dem Inhalt der Dialektik tiefer auseinanderzusetzen.
Beide kritisieren die Dialektik, wobei Weinberger der Dialektik
ein recht großes Interesse und Wissen entgegenbringt. Seine
Kritik regt mich also auch stärker zu Entgegnungen an, was
nicht bedeutet, daß ich ihm gegenüber stärkere
Ablehnung empfinden würde. 1. Beziehung Dialektik - Philosophie Weinberger setzt voraus, daß es die "Aufgabe der Wissenschaften und der Philosophie ist, verstehbare Behauptungen aufzustellen". Meine 9-jährige Tochter wird sich freuen, daß sich alle Wissenschaft ab nun auf den Horizont ihrer "Verstehbarkeit" zu beschränken hat! Eine Hilfe bei der Meisterung ihres Lebens ist das sicher nicht. Weinbergers Wissenschaftsbegriff ist also recht eng gezogen, daraus wird das Unverständnis über darüber hinausgehende Gedanken verstehbar. (Jeder mag seine eigene Entscheidung treffen, wozu er sich mit dem Ganzen beschäftigt... Auch meine Tochter darf notfalls aufhören, dazuzulernen...). Natürlich geht es Weinberg hier nur um eine prinzipielle Verstehbarkeit, aber wer will die den Hegel-Kennern absprechen, nur weil man ihnen selbst vielleicht nicht folgen kann? Der Suche nach "größtmöglicher Klarheit und adäquater Präzision" wird die Hegelsche Dialektik schon gerecht, sie erreicht sie durch eindeutige Begriffsbestimmungen - etwa in einer sauberen und präzisen Unterscheidung von "Sein", "Dasein", "Existenz", "Realität" und "Wirklichkeit". Seiffert sieht es als Besonderheit der Dialektik an, daß ihre Bedeutung nur durch die Betrachtung der jeweiligen Autoren zu zeigen und zu verstehen sei. Ist dies nicht für alle philosophischen Autoren so? Oder gibt es "die eine objektiv richtige" Philosophie und nur verschiedene Dialektiken? Interessant ist die Beobachtung, daß die Klassiker kaum zitierten - die Leser hatten zu wissen, welche Geschichte die Begriffe mit sich tragen. Weinberger versucht anzuerkennen, "daß die Dialektik nicht von der Warte der logischen Begriffsapparatur aus verstanden und kritisiert werden darf." Im Gegenzug spricht er ihr aber ab, an diese Begriffe überhaupt anschließen zu dürfen. Ist es jedoch nicht geradezu typisch für philosophische Begriffsbildungen, daß sich alle originären Philosophen auf ältere Begriffe stützen, wobei sie deren Bedeutung ausdrücklich umdefinieren? Die Transparenz der Umdefinition muß gewahrt bleiben, die Motivation dafür ist aber oft nur verstehbar von der neueren Interpretation aus. Dies hat die Philosophie aber mit anderen Wissenschaften gemeinsam. Auch die Relativitätstheorie spricht noch von "Zeit" und "Raum", hat aber ein verändertes Verständnis davon als die klassischen Theorien. Der Zeitbegriff unterscheidet sich z.B. in der Thermodynamik noch einmal typisch von dem der Newtonschen Philosophie wie auch der Relativitätstheorie. Daß "Negation" in der Dialektik etwas anderes ist als in der Logik muß man also einfach akzeptieren und verstehen lernen. Das sogenannte "Korrespondenzprinzip", daß nämlich die neueren Naturwissenschaften die älteren i.a. als Grenzfall mit enthalten (z.B. gilt die Newtonsche Dynamik solange die Geschwindigkeiten weit unter der Lichtgeschwindigkeit liegen) gilt auch bei philosophischen Konzepten - wenn nämlich ein Konzept ältere dialektisch "aufhebt" - aber da sind wir schon wieder bei der Dialektik, die nicht von allen anerkannt wird.
(Ich bin übrigens der Meinung, daß
auch die Naturwissenschaften nicht ganz so "objektiv"
und "unparteiisch" sind, wie sie zu sein vorgeben. Da
wird es noch mehr Gemeinsamkeiten mit der eher subjektiv geprägten
Philosophie geben!).
Weinberger sieht die Funktion der Dialektik
darin, ungelöste Fragen der logisch-analytischen Methode
aufzugreifen und in mit ihren eigenen Methode lösen zu wollen.
Dabei verfehlt sie nach Weinberger aber dieses Ziel, weil eine
Weiterentwicklung der logischen Analyse die Fragen ebenso lösen
kann. Dies kennzeichnet seinen Standpunkt als logischen Analytiker,
das Argumentationsmuster kann für den Dialektiker analog
verwendet werden.
2. Worauf bezieht sich Dialektik?
Seiffert reduziert Dialektik auf den historischen
Ursprung, bei dem Dialektik nur etwas mit dem Umgang mit Aussagen
zu tun hat, nicht mit der Realität. Die ethymologische Herkunft
philosophischer Begriffe wie "Gegensatz" und "Synthese"
nimmt er als Beweis für die Nichtexistenz entsprechender
Prozesse/Eigenschaften in der natürlichen Realität.
(Viele falsche Anwendungen im Bereich der Natur beweisen aber
nicht die Nicht-Anwendbarkeit...).
Wenn Seiffert unterstellt, die Dialektik sei
nur als persönliche sprachliche Produkte von Hegel und Marx
interpretierbar und nicht - wie andere Methoden/Theorien - systematisch
darzustellen, so ist das eine ziemlich subjektive und nicht akzeptable
Vorstellung von Autorenschaft und Systematik. Dialektiker kennen
ihre Systematik so genau wie ein geschulter Phänomeloge vielleicht
die seine. Vielleicht ist es aber ein gutes Kennzeichen der dialektischen
Methode, wenn sie ihre Parteilichkeiten transparent macht und
nicht in nicht mehr hinterfragbaren Schulen versteckt? (Als Nicht-Phänomeloge,
Nicht-Hermeneutiker, Nicht-Sprachanalytiker begegnen mir auf dem
Gebiet der Phänomelogie, der Hermeneutik, der Sprachanalyse
ebenfalls dutzende verschiedener Autoren mit verschiedenen Ansichten
-oder bin ich da nur noch nicht genügend gleichgeschaltet
worden durch eine Schule?) Weinberger unterscheidet verschiedene Dialektik-Ansichten, bei der Dialektik in der Natur und Dialektik im Denken unterschieden werden können. Hegel legt Wert auf die Identität des Denkens mit dem Sein, die er nur in der dialektischen (!) Bewegung begründen kann.
Im Marxismus wird die Dialektik des Denkens
nicht nur aus der Dialektik der Natur abgeleitet - Weinberger
überbetont (wie auch die marxistischen Dogmatiker) die Begründungsrelation
(objektive Dialektik begründet Dialektik im Denken) und übersieht
die Eigendialektik des subjektiven Bereiches und die Subjekt-Objekt-Dialektik
(die beide in besserer marxistischer Literatur durchaus auch vorkommen).
Seiffert zitiert später Lukacz, der die
dialektische Methode ausdrücklich nur für Mensch-Natur-Wechselwirkungen
anerkennt. Lukacz selbst verkennt hier sogar das Wesen der Naturerkenntnis,
der er den Veränderungswillen abspricht, was nicht zwingend
ist. Nicht nur Gesellschaftstheorien werden "Theorien dieses
beweglicheren Typs", die Habermas in einem Zitat bei Seiffert
dadurch beschreibt, "daß sie selbst Momente des
objektiven Zusammenhangs bleiben, den sie ihrersseits der Analyse
unterwerfen." Wird nicht auch die Naturwissenschaft in
dieser Weise dialektisch verstanden, verfällt sie hoffnunglos
der Kritik durch esoterische Mystiker, die fälschlicherweise
aus der Quantentheorie ableiten, daß ihr Gedanke einen Quant
direkt beeinflussen könne. 3. Der Inhalt der Dialektik
Beide Autoren halten sich lange mit der Triade
"These-Antithese-Synthese" auf. Seiffert bezieht sich
vorwiegend auf die äußere Form der Kapitelgestaltung
bei Hegel und übersieht dabei Hegels eigene Schwierigkeiten,
die tatsächliche dialektische Gedankenabfolge in Dreierschritten
einzupressen. Gerade der auch von Hegel gespürte Zwang zur
Systematik, den Seiffert ja vorher allen ernsthaften Theorien
abfordert, führte zu dieser Einpressung. Der Inhalt selbst
hat anderen Charakter. Nicht umsonst wehrt sich Hegel selbst gegen
den Begriff der "Synthese". Das Wesentliche der Dialektik
ist von Seiffert als "Nichtkenner Hegels" tatsächlich
gar nicht erfaßt worden. Anders Weinberger. Ihm ist der Gedankenreichtum der Dialektik wohlbekannt, seine Kritik reicht tiefer. Er nennt mehrere Problemkomplexe:
a) das Negative: Die Negation ist in der Dialektik ein
wesentlicher Prozeß. Weinberger bezieht das Negative auf
die Nominalnegation, bei der ein übergeordneter Begriff vorausgesetzt
wird, in bezug zu dem das Komplement gebildet wird ("Dieser
Stift ist nicht rot" - setzt Farbenvielfalt voraus). Letztlich
existiere das Negative selbst nicht. b) schöpferische Negationen: zugegebenermaßen war die "Negation der Negation" eien Schwachstelle des sog. "Dialektischen Materialismus". Die bei Weinberger genannten Beispiele dafür sind schon nicht so schlecht. Wenn die "Regel über die Auffindung des Ausgangspunktes der Negation und die Operation (oder den realen Vorgang) der schöpferischen Negation" nicht eindeutig erkannt werden kann, kann das auch an einer nichtangemessenen Fragestellung des Theoretikers an die Natur liegen! Genau dieser Regelhaftigkeit versperrt sich das Schöpferische! Das war bei Hegel und auch bei Marx noch nicht so klar, bei Hegel zumindest war das Neue implizit im sich Bewegenden schon enthalten und brauchte nur noch freigesetzt zu werden. Gewähr dafür war, daß der ganze Prozeß nur das Zu-sich-selbst-kommen eines vorausgesetzten Absoluten zu sein hatte. Marx nahm noch an, daß sich aus der Kritik des Vorhandenen das Neue eben aus der Aufhebung des Alten ergäbe (was er gut anhand der Entwicklung vom Handwerk und den Manufakturen zur großen Industrie nachvollzog). Offene Zukünfte kannte er in der Theorie noch nicht, obwohl er in praktischen politischen Ratschlägen (Brief an Vera Sassulitsch) vorsichtiger war. Wenn Weinberger hier weiter den von Hegel nie verwendeten Begriffen These-Antithese-Synthese folgt und daraus ableitet, daß das offensichtlich in den Bereich der Gedankengebilde fällt, ist das einigermaßen unredlich. c) Fortschritt: Ja, bei Hegel und Marx ist die "Negation der Negation" als Fortschritt gewertet. Nicht zu vergessen ist hier aber, daß in realen Entwicklungsprozessen auch Regression, Stagnation und Vernichtung erfolgen. Dialektik bedeutet nicht, daß alles sich Bewegende in der Spirale nach "oben" klettert. Aber jeder Zustand ist konkret, deshalb innerlich differenziert und widersprüchlich und ermöglicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die schöpferische Negation (d.h. Beenden alter Zustandsmöglichkeiten und Aufbau neuer).
d) Damit sind wir bei einem weiteren Punkt, der Widersprüchlichkeit:
e) Identität von Identität und Unterschied:
f) Theorie der Bewegung und Entwicklung:
Mir geht die Zeit jetzt langsam zu Ende, ich
kann nur noch kurz auf zwei Punkte eingehen::
Wesentliche Zusammenhänge konstituieren
relativ stabile Zustände, wobei durch Wechselwirkungsprozesse
die Bedingungen des eigenen Seins verändert werden. Veränderte
Bedingungen führen zu einer Veränderung wesentlicher
Zusammenhänge und es vollzieht sich auf diese Weise Bewegung
und Entwicklung in kontinuierlichen und/oder diskontinuierlichen
Prozeßfolgen... h) "Relativität"
Der Dialektik wird oft Beliebigkeit unterstellt.
"Alles ist relativ" - könnte ja fast zum Credo
der modernen Postmoderne werden. Relativität bezieht sich
aber auf Relationen, Beziehungen und die sind nicht beliebig.
Das Wesen erfaßt Beziehungen und ermöglicht deshalb
wissenschaftliche Erkenntnis der sich dauernd verändernden
Welt, in der reale Erscheinungen ständig entstehen und vergehen.
Das Entstehen, Vergehen, Übergehen vollzieht sich aber in
dauernden Beziehungsgeflechten und diese zu erkennen ist das Ziel
von Wissenschaft (gegen Weinbergers Ansicht in 1.). Ich komme nun doch zusammenfassend auf einen weiteren Punkt: i) Erkenntnis: Verstehbare Behauptungen wie bei Weinberger sind für mich nur nebensächliche Merkmale für Erkenntnisse. Wichtiger ist mir, wenn man schon sehr allgemein bleiben will, die Erklärung, das Verstehen, die Orientierung durch Erkenntnis. Ein anderes Wort für die zu erreichende Funktion ist Begründung. Ich suche nach Begründungen für Vorhandenes und Gewolltes. Bei Vergleichen werden vorhandene Unterschiede auf Identität zurückgeführt, aber keine weiterführenden Aussagen ermöglicht. Begündungen beruhen auf Unterschieden. Etwas hat seinen Grund in Anderem, das ihm nicht absolut fremd sein kann (sonst gäbe es keine Beziehung/Wechselwirkung).
Die Beziehung zwischen dem Etwas und seinem
Anderen aufzudecken (die das Dauernde im ständig Übergehenden
darstellt) ist Wesenserkenntnis. Erstens werden damit Unterschiede
angenommen, zweitens sind die konkreten Wechselwirkungen in der
Beziehung zumindest einander entgegengesetzt, dann widersprüchlich.
Beide Behauptungen sind typisch für die Dialektik, haben
sich aber doch auch als reale Eigenschaften der Denkprozesse und
vieler natürlicher Prozesse erwiesen. Für diese sei
den Dialektikern das dialektische Denken gestattet - wer sich
auf die Prozesse beschränkt, bei denen das logisch-analytische
Denken ausreicht, mag sich darauf beschränken und die Reichweite
seiner Methode nachweisen. 4. Anwendung in der Gesellschaftstheorie Man spürt ganz deutlich, daß Seifferts Kritik an Hegel auf den Marxismus zielt. Indem Seiffert erkennt, daß der Marxismus auf Hegels Dialektik fußt, muß er mit seinem Kritikwillen bereits dort ansetzen. Problematisch ist erstens, daß er unvermittelt die Hegelsche Geschichtsphilosophie als Quelle des Marxismus benennt und verwischt, daß es mehr die Methode war, die Marx eigenständig (und gegen Hegel selbst!) angewandt hat und zweitens, daß er sich bei Marx nur auf die eher unphilosophische Schrift des Manifests bezieht. Sauber wissenschaftlich kann man dieses Argumentationsmuster nicht nennen.
Marx betont ausdrücklich den Unterschied
zwischen Erarbeitung einer Theorie und der Darstellung der Ergebnisse
(sogar innerhalb seines großen Werks "Kapital",
noch viel mehr bezüglich der populären Schrift des Manifests).
Die Dialektik nun nur an der populären Darstellung kenntlich
zu machen (wo sie logischerweise auch auftaucht) und ihr dann
aber das "sich von selbst ergeben der Folgerungen" auch
noch vorzuwerfen, zeigt völliges Unverständnis gegenüber
einer wissenschaftlichen Arbeitsmethode (und das in einer Schrift
über Wissenschaftstheorie!).
Auch die Ergebnisse werden ziemlich willkürlich
gedeutet. Angeblich soll nach dem Ende der Klassenkämpfe
in der klassenlosen Gesellschaft für die Menschen "nichts
Neues mehr kommen können". Wo hat er das gelesen?? Anderes
Neues wird möglich werden, da die Menschen aus allen Zuständen
befreit sind, in denen sie ausgebeutete, geknechtete Wesen sind.
Viel mehr verlangt Marx von dieser Zukunft nicht. Weniger aber
auch nicht. Das menschliche Wesen als Kreativität beschreibt
Marx an vielen anderen Stellen; seine Konzentration auf die Beseitigung
der knechtenden Zustände soll ja nur diese Entfesselung der
unendlichen Möglichkeiten für menschlich erzeugtes Neues
ermöglichen... Er spricht nicht umsonst vom Übergang
aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.
Die Frage nach der Interpretation der Geschichte
als Klassenkämpfe reibt sich ebenso an der damit praktizierten
Nicht-Dialektik auf. Dialektik zielt nicht nur auf irgendwelche
Interpretationen, sondern auf die Aufdeckung wesentlicher,
d.h. für genau die betrachteten Zustände typischen Wechselwirkungen.
Welche Verhältnisse prägen bestimmte Lebensweisen?
Daß es im Laufe vieler Jahrtausende die ökonomischen
Machtverhältnisse waren und sind, die die menschliche Selbstverwirklichung
kanalisieren und die Menschen knechten ist genau Punkt, den Marx
analysiert und kritisiert! Referenzen:
H.Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie,
Kapitel Dialektik
Das Ganze ist ja inzwischen ein Meta-Meta-Disput
geworden. In der Naturwissenschaft kann man anscheinend erst mal
bis zum Abi feste Formeln und Gesetze büffeln, im Studium
sagt einem der eigene Prof auch noch, wer in der Forschung auf
dem richtigen Weg (wie er selbst) und wer auf dem falschen (wie
seine Gegner) ist. Im geisteswissenschaftlichen Bereich sieht
das wohl schlimmer aus. Man soll sich gleich durch dutzende Meinungen
durcharbeiten, die nur darin bestehen, andere Meinungen zu kritisieren,
die auch nur wieder andere kritisieren... Was kann uns da leiten? Letztlich doch wieder nur der gesunde Menschenverstand, das, was uns das Leben lehrt. Was hilft uns wobei? Für fast jeden Job mit freizeitlichem Fernsehen reicht das Schulwissen allemal. Aber wer weiter will...
(... soll hier weiterschreiben, das Web
hat noch viel Platz)
siehe auch:
![]() ![]()
|